Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

01.02.09, Pfarrerin Angelika Obert

„Ich tat die Augen auf und sah das Helle“ - Mascha Kaléko und die Religion

Sprecherin: Zuweilen möchte man aus sich herausUnd kann die Tür ins Freie doch nicht finden. Dann schnüffelt man vielleicht mal nach den Gründen

Und kriecht noch tiefer in sein Schneckhaus.

Man müsste vieles tun. Und manches lassen.
Man kann das eine wie das andre nicht.
Man denkt an manche unerfüllte Pflicht,
Bis sich die Dinge dann mit uns befassen.    (Stenogrammheft S. 49)

Autorin: Wer erkennt sich in diesen Versen nicht wieder? Mascha Kaléko war Anfang Zwanzig, als sie ihren „Katzenjammer-Monolog“ schrieb und ganz bestimmt nicht besonders weise. Aber doch sehr genau in der Beobachtung  menschlicher Seelenregungen. Auch die Älteren fühlten sich von ihr verstanden. Es hat immer etwas Befreiendes, wenn jemand genau sagt, wie es ist. Dafür wird die Dichterin bis heute geliebt. Ich bin ihr zum ersten Mal in einem Gottesdienst begegnet. Damals war ich noch in der Ausbildung. Unser Predigtlehrer zitierte Mascha Kaléko. Wir waren beeindruckt. So eine seelengerade Sprache suchten wir auch. Ich wurde ein Kaléko-Fan. Ihre Gedichte begleiten mich jetzt seit über zwanzig Jahren – fast genauso lange bin ich, Angelika Obert, auch schon Pfarrerin im Evangelischen Rundfunkdienst Berlin. Mit der Kirche hatte die Dichterin Mascha Kaléko selbst allerdings gar nichts am Hut. Woher kommt dann dieses Gefühl der Nähe? Mascha Kaléko war die weibliche Stimme im Chor der brillanten Großstadtlyriker, die es in den letzten goldenen Jahren vor dem Nationalsozialismus in Berlin so reichlich gab: Tucholsky, Ringelnatz, Klabund, Kästner – mit ihnen traf sie sich im Romanischen Café und durfte als Jüngste und Schönste im Bunde die Klappe weiter aufreißen als alle andern. Was sie von ihren männlichen Kollegen unterschied, war ihre Alltagserfahrung als kleine Büroangestellte: Seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitete Mascha Kaléko als Sekretärin. Wie es sich anfühlt, Tag für Tag im Büro eingesperrt zu sein, das wusste sie aus eigener Erfahrung:  

Sprecherin:
Einmal sollte man seine Siebensachen
Fortrollen aus diesen glatten Geleisen.
Man müsste sich aus dem Staube machen
Und früh am Morgen unbekannt verreisen.

Man sollte nicht mehr pünktlich wie bisher
Um acht Uhr zehn den Omnibus besteigen.
Man müsste sich zu Baum und Gräsern neigen,
Als ob das immer so gewesen wär.

Man sollte sich nie mehr mit Konferenzen,
Prozenten oder Aktenstaub befassen.
Man müsste Konfession und Stand verlassen
Und eines schönen Tags das Leben schwänzen.  (
Stenogrammherft S. 57)

Autorin: Von Religion ist hier nicht die Rede. Dafür interessierte sich die gerade aufgeblühte Großstadtpflanze noch überhaupt nicht. Aber wie wach gibt sie der Sehnsucht Ausdruck, dem Wissen von der andern Dimension jenseits der Realitäten des Alltags. Die Dinge werden sofort ins richtige Verhältnis gerückt, wenn sie beobachtet, dass schon ein Tag in freier Natur ausreichen kann, um zu merken, wie jämmerlich die alltäglichen Wichtigkeiten sind. Sie versteigt sich nicht zu der Behauptung, dass Gott in der Natur zu finden sei. Sie erzählt von ihrer Befindlichkeit zwischen Zwang und Befreiung und kommt ihm so nah. Von Franz Hessel, dem Mascha Kaléko sehr verbunden war, stammt der schöne Satz: Die Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele. Davon hatte Mascha Kaléko sehr viel.
Und sie hatte die weibliche Fähigkeit, in allem, was sie sagte, ganz nah bei sich zu bleiben. Sie konnte auch komplizierte Gefühle so ausdrücken, dass sich der Nebel um sie lichtete. „Kleine Auseinandersetzung“  heißt dieses Gedicht:

Sprecherin:
Du hast mir nur ein kleines Wort gesagt,
Und Worte kann man leider nicht radieren.
Nun geht das Wort mit mir spazieren
Und nagt ...

Was war es doch? Ein Nichts. Ein dummes Wort ...
So kurz und spitz. Leis fühlte ich das Stechen.
In solchen Fällen kann ich selten sprechen,
Drum ging ich fort.                                        
(Stenogrammheft S. 55)

Autorin: Für solche Verse bekam Mascha Kaléko viel Post: „Es ist ein befreiendes Gefühl, seine eigensten Nöte in Versen ausgedrückt zu finden“, schrieb ihr eine Leserin.

Musik:  Giora Feidman, The Magic of Klezmer, Tr. 2: Ki Mizion

Autorin: Mascha Kaléko war Jüdin. Sie hatte nur wenige glückliche Jahre in Berlin. Bald konnte sie nichts mehr veröffentlichen.1938 ist sie dann endlich auch mit Mann und Kind nach Amerika entkommen. Nun war nichts mehr leicht. Sie begann, sich mit ihren jüdischen Wurzeln zu beschäftigen. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Galizien. Die chassidischen Legenden, die Martin Buber veröffentlichte, berührten sie sehr. Der Ton ihrer Gedichte änderte sich, wurde trauriger und ernster. Sie suchte – in der Tradition ihrer chassidischen  Vorfahren – danach, ihr Schicksal in Würde anzunehmen. Davon zeugt ein Gedicht, das die Überschrift „Gebet“ trägt:

Sprecherin:
Herr, unser kleines Leben – ein Inzwischen,
Durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.
Und unsre Jahre: Spuren, die verwischen,
Und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.

Was weißt du, Blinder, von der Stummen Leiden!
Steckt nicht ein König oft in Bettlerschuhen?
Wer sind wir denn, um richtend zu entscheiden?
Uns war bestimmt, zu glauben und zu tun.
Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen.
Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn.
Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,
Und lass uns einsam, nicht verlassen sein.       
                      (Verse für Zeitgenossen S. 11)

Autorin: Die Meisterin der Alltagsbeobachtung hat die Horizonte nun sehr weit gerückt. So spürbar ihr Schmerz ist, sucht sie ihn doch zu überwinden. Winzig  erscheint das eigene Leben vor Gottes Ewigkeit  - bewähren soll es sich, ohne zu fordern. Mascha Kaléko spricht hier wie der biblische Hiob, nachdem er sich in sein Leiden ergeben hat. 

Aber sie hat auch aufbegehrt gegen den Gott, der die massenhafte, grauenhafte Vernichtung von vielen Millionen Menschenleben zuließ. Wie ein moderner Klagepsalm klingt das Gedicht, dem sie allerdings die Überschrift gab: Verse für keinen Psalter:  

Sprecherin:
Ich möchte in dieser Zeit nicht Herrgott sein
Und wohlbehütet hinter Wolken thronen,
Allwissend, dass die Bomben und Kanonen
Den roten Tod auf meine Söhne spien.

Wie peinlich, einem Engelschor zu lauschen,
Da Kinderweinen durch die Lande gellt,
Weißgott, ich möchte um alles in der Welt
Nicht mit dem lieben Gott im Himmel tauschen.

Lobet den Herrn, der schweigt! In solcher Zeit –
Vergib, o Hirt, - ist Schweigen ein Verbrechen.
Doch wie es scheint, ist Seine Heiligkeit
Auch für das frömmste Lämmlein nicht zu sprechen.   
           (Verse für Zeitgenossen, S. 49)

Autorin: Wer die biblischen Psalmen liest, wird oft finden, dass die Klage unmittelbar ins Lob übergeht. Auch für Mascha Kaléko gibt es mitten in den leidvollen Zeiten des Exils Tage, an denen das Leben wieder glänzt. Es bedarf dazu gar keines äußeren Anlasses. Manchmal sind sie eben da, die Stunden der Gnade, in denen der Mensch weiß, dass Gott es gut mit uns meint. Mascha Kalékos Loblied heißt: „Sozusagen grundlos vergnügt“:

Sprecherin
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass roten Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.

Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
Und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.                                  
(Sturm S. 70)


Musik: Feidman, Magic of Klezmer, Tr. 2

Autorin: Im Oktober 1957 schrieb Mascha Kaléko an den verehrten Gelehrten Martin Buber einen Brief. Sie fragte ihn, ob es nicht auch für die jüdische Mystik Übungswege gebe – so wie sie der ZEN-Buddhismus kennt. Denn die jungen Leute, auch ihr 20jähriger Sohn, wollten wissen, was sie tun müssten, um dem Ewigen näher zu kommen.  Es klingt beinahe so, als wäre der Brief heute geschrieben. Allerdings bekam die Dichterin damals eine abschlägige Antwort: Der Übungsweg, so Martin Buber, sei das Leben selbst. Ob Mascha Kaléko wohl enttäuscht war? Ihr wurde eine spirituelle Praxis immer wichtiger. Der Buddhismus interessierte sie darum sehr – und manchmal dichtete sie nun auch ein wenig buddhistisch:

Sprecherin:
NICHTS IST
- sagt der Weise.
Du lässt es erstehn.
Es wird mit dem Wind
Deines Atems verwehen
Unmerklich und leise.
Nichts ist. Sagt der Weise.  
(Sturm S. 83)

Autorin: So ganz weise wurde Mascha Kaléko aber nie. Sie blieb die lebhafte und auch leicht erregbare Mädchenfrau, die sie nun einmal war. Nie hörte sie auf sich zu empören – über Menschen und über die Unvernunft der Verhältnisse.  Gar nicht so buddhistisch, eher schon protestantisch klingt eins ihrer späten Gedichte, das sie „Zeitgemäße Morgenandacht“ genannt hat. Es stammt aus den frühen 70er Jahren und könnte genauso gut von heute sein::

Sprecherin:
Noch vor dem Frühstück, dem Traum kaum entronnen,
Überfliege ich, mit gesenkten Schwingen,
Das Wesentliche im Morgenblatt.

Mindestens eine Flugzeugentführung,
Diverse Versuche mit todsicheren Strahlen.
Aufruhr. Erpressung. Und Inflation.

Luft- und Seelenverschmutzung.
Dürre und Flut und Mangel
An Süß- und Sauerstoff.
Die Fische krepieren am Wasser,
Die Menschen am Fisch.

Weh mir! Ich kann das Weltgeschehen
Nicht ändern.
Und die Geschicke
Nicht abwenden.

Ich werde die Zeitung abbestellen.           (Sturm S. 108)   2.07

Autorin: Alltagstrost und Seelenkunde, tiefe Gottesfurcht und Aufbegehren, Zeitkritik und Sehnsucht nach buddhistischer Gelassenheit – all das begegnet mir in den Gedichten von Mascha Kaléko.  Eine spirituelle Gemengelage, die der meinen doch sehr ähnelt, mag sie auch etwas anders gefärbt sein.  Viel genauer als manche weltreligiösen Theorien bringt Mascha Kaléko zum Ausdruck, wie wir uns in diesen Jahren im Aufbruch befinden zwischen den Religionen und Konfessionen und alle unsere eigenen Glaubens- und Übungswege finden müssen. Mascha Kaléko ist ihren Weg mit großer Intensität gegangen und manche ihrer Gedichte zeugen davon, dass sie Gottes Nähe auch immer wieder erfahren hat.

Ich bin Angelika Obert, Pfarrerin im Evangelischen Rundfunkdienst Berlin, und verabschiede mich von Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, mit einem Kaléko-Gedicht, das ich ganz besonders liebe. Es sind Verse  für einen hellen Sonntagmorgen, Auferstehungsverse:  

Sprecherin:
Ich tat die Augen auf und sah das Helle,
mein Leid verklang wie ein gehauchtes Wort. –
Ein Meer von Licht drang flutend in die Zelle,
Das trug wie eine Welle mich hinfort.

Und Licht ergoss sich über jede Stelle,
Durchwachte Sorgen gingen leis zur Ruh. –
Ich tat die Augen auf und sah das Helle,
Nun schließ ich sie so bald nicht wieder zu. 
          (Sturm S. 87)

Musik: Feidman, Magic of Klezmer, Tr. 6 With much Sentiment        

 

 

 

Audiobeitrag „Ich tat die Augen auf und sah das Helle“ - Mascha Kaléko und die Religion


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