Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

25.12.05, 8.05 Uhr, Helga Warsen

„Mitten im kalten Winter“ – Vom Wunder der Weihnacht

Guten Morgen , liebe Hörerinnen und Hörer, ich begrüße Sie herzlich am Morgen es ersten Weihnachtstages. Mein Name ist Helga Warsen. Ich bin Pfarrerin und

und arbeite an einem Berufskolleg in Recklinghausen.

Heiligabend  liegt hinter uns. Vielleicht sind Sie noch erfüllt von schönen
Erinnerungen und freuen sich , dass noch zwei Festtage auf Sie
warten. Vielleicht aber sind Sie froh, dass übermorgen wieder der Alltag
beginnt und der Stress der Feiertage vorbei ist.

Weihnachtsstress, damit meine ich  weniger die Festvorbereitungen, die
Jagd nach Geschenken, die Anstrengungen- besonders der Mütter-
Weihnachtsessen und Familientreffen zur Zufriedenheit aller zu gestalten.

Ich denke bei Weihnachtsstress an etwas, das der Schriftsteller Erich
Kästner im Rückblick auf seine Kindheit so beschreibt: Er erzählt, wie
seine Eltern aus Liebe zu ihm aufeinander eifersüchtig waren und gerade
an Weihnachten der Konkurrenzkampf seinen Höhepunkt erreichte:

Sprecher:

„Wochenlang, halbe Nächte hindurch, hatte mein Vater im Keller gesessen
und, zum Beispiel, einen wundervollen Pferdestall gebaut. Er hatte ge-
schnitzt und genagelt, geleimt und gemalt…
Wochenlang, halbe Tage hindurch, hatte meine Mutter die Stadt durchstreift
und die Geschäfte durchwühlt. Sie kaufte jedes Jahr Geschenke, bis sich
deren Versteck, die Kommode, krumm bog…“

Autorin:

Die Bescherung erlebte der kleine Erich als ein Drama mit drei Personen,
in dem er selbst die Hauptrolle spielt. Von seinem Talent, aus dem Stegreif
zu spielen, hängt es ab, ob das Stück eine Komödie oder ein Trauerspiel
wird.

Sprecher:

„Noch heute klopft mir, wenn ich daran denke, das Herz bis zum Hals…
Gleich würde ich lächeln müssen, statt weinen zu dürfen…
Vater und Mutter hatten sich links und rechts vom Tisch postiert, jeder
neben seinen Gaben, als sei das Zimmer samt dem Fest halbiert.
„Oh“, sagte ich, „wirklich schön!“  und meinte beide Hälften. Ich hielt
mich noch in der Nähe der Tür, so dass mein Versuch, glücklich zu
lächeln, unmissverständlich beiden galt…zögernd ging ich auf den
herrlichen Tisch zu, auf den halbierten Tisch,
und mit jedem Schritt wuchs meine Verantwortung, meine Angst und
der Wille, die nächste Viertelstunde zu retten…
                                                               

Ich war ein Diplomat, erwachsener als meine Eltern, und hatte dafür
Sorge zu tragen, dass unsere feierliche Dreierkonferenz unterm
Christbaum ohne Missklang verlief.
Ich stand am Tisch und freute mich im Pendelverkehr. Ich freute
mich ehrlich und musste die Freude zerlegen und zerlügen…“

Autorin:

Nach der Bescherung besuchte die Familie Kästner Onkel Franz,
den Bruder der Mutter, und seine Familie. Es gab Kaffe und Stollen
und irgendwann kam der Moment , wo Onkel Franz seine Schwester
zu hänseln begann:

Sprecher:

„ Meine Mutter wehrte sich, so gut sie konnte. Aber gegen Onkel
Franz und seine Stimme war kein Kraut gewachsen…Mein Vater
blinzelte stillvergnügt über den Brillenrand, trank einen Schluck Wein,
wischte sich den Schnurrbart und genoss es von ganzem Herzen,
dass meine Mutter endlich einmal nicht das letzte Wort haben sollte.
Das war für ihn das schönste Weihnachtsgeschenk! Sie hatte vom
Weintrinken rote Bäckchen bekommen. “Ihr wart ganz gemeine, nie-
derträchtige und faule Lausejungen!“ rief sie giftig. Onkel Franz
freute sich, dass sie sich ärgerte. “Na und, Frau Gräfin?“ gab er zur
Antwort.“ Aus uns ist trotzdem was geworden!“ Und er lachte, dass
die Christbaumkugeln schepperten.“

Autorin:

So weit Erich Kästner.
Er beschreibt anschaulich, wie Weihnachten zur Strapaze, zum emotio-
nalen Balanceakt werden kann.
Und so wie er damals, balancieren auch heute viele Kinder an Weihnachten
zwischen einander feindlich gesonnenen Eltern. Freuen sich Jugendliche
im Pendelverkehr zwischen Familienblöcken, die voneinander getrennt leben.
Und auch da, wo Familien, ja sogar Großfamilien gemeinsam feiern,
gibt es nicht selten jemanden wie den erwähnten Onkel Franz, der Streit
anfängt und die Christbaumkugeln zum Scheppern bringt.

Auch und gerade wenn alle auf Harmonie bedacht sind, kommen nicht
selten Missstimmung, Gereiztheit und Streit auf. Der gute Wille, weihnacht-
lichen Frieden zu halten, ist vorhanden. Er reicht aber oft nicht aus, um
schwelende Konflikte und langgehegte Antipathien zu überbrücken.
Der Gabentisch ist reichlich gefüllt, doch die Herzen bleiben seltsam leer.
Die Weihnachtsfreude, die erhoffte, will sich nicht einstellen.
Der Sinn des Festes, das wir so liebevoll, oft auch mühevoll inszenierten,
entzieht sich uns. Wir spüren ihn nicht. Oder nicht mehr.

                                                 

Zwischenmusik: “Rosa mystica“
                            aus „Celtic Christmas“ von Kim Robertson


Für mich klingt der ursprüngliche Sinn von Weihnachten in einem
alten Lied an. Es stammt aus dem 16. Jahrhundert und um seine
Entstehung rankt sich folgende Legende:

In einem Kloster, unweit von Trier, lebt ein junger Mönch namens
Laurentius. Als er in der Weihnachtsnacht den Klostergarten durch-
quert, entdeckt er mitten im Schnee eine frisch erblühte Rose. Er
pflückt sie und legt sie am Marienbild des Altars der Klosterkirche
nieder. Nachdem er im morgendlichen Gottesdienst die Orgel ge-
spielt hat, kehrt er in seine Klosterzelle zurück. Noch immer hat er
das Bild von der Rose mitten im Schnee vor seinem inneren Auge.
Unter diesem Eindruck dichtet er das Lied:“ Es ist ein Ros entsprun-
gen“.

Soweit die Legende. Fest steht, dass es im Mittelalter ein solches
Lied gab mit mehr als zwanzig Strophen. Eine Art geistlicher Minne-
Gesang an Maria. 1609 fanden die beiden ersten Liedverse in ein
evangelisches Gesangbuch. Der Kirchenmusiker und Komponist Mi-
chael Praetorius nahm das Lied in sein Sammelwerk von Chorälen
auf. Er schrieb den bekannt geworden vierstimmigen Liedsatz, den
wir nun hören:

Zwischenmusik: Michael Praetorius, Es ist ein Ros entsprungen
                           Strophen 1 und 2

Das Lied von der Rose, die aufblühte, als der Winter am kältesten
war, erzählt auf seine Weise die Weihnachtsgeschichte noch einmal.
Die Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem erscheint dem Lie-
derdichter wie das unverhoffte Aufblühen einer Rose mitten in Eis
und Schnee.

                                           
Ihre Wurzeln reichen weit in die Vergangenheit.
„Wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art.“
Gemeint ist Isai, Schafzüchter aus Bethlehem. Vater des legendären
Königs David, der in vierzigjähriger Herrschaft seinem Volk Recht
und Frieden verschafft hatte.
So tief die Rose in der Vergangenheit wurzelt, so weit reichen die mit
ihr vebundenen Hoffnungen in die Zukunft.

„Es wird ein Reis aufgehen von dem Stamm Isaias und ein Zweig aus
seiner Wurzel Frucht bringen“, hatte der Prophet Jesaia verheißen.
Diese Hoffnung auf einen Herrscher, der endgültigen und umfassenden
Frieden bringen wird, verband der Liederdichter mit Jesu Geburt.
Das Kind im Stall, von Geburt an „nicht auf Rosen gebettet“, ist für
ihn die Erfüllung der alten Verheißung.
Ist für ihn wie die Rose, die aufblüht, wo nur Kälte und Schnee
herrschen.

„Mitten im kalten Winter“ -  damit ist nicht die romantische Winter-
landschaft gemeint, die wir uns als Weihnachtskulisse erträumen.
„Mitten im kalten Winter“ –meint die bittere Härte des Winters, meint
die Realität. Eis, Kälte, Frost, Erfrierungen.
Der Winter ist gemeint, den die Menschen in den Erdbebengebieten
Pakistans und anderen Krisengebieten zu Recht fürchten.
Der Winter, der auch in unseren Städten für Obdachlose zur Über-
Lebensfrage werden kann.

„Mitten im kalten Winter“ –meint auch soziale Kälte. Wenn Schwache
immer mehr an den Rand gedrängt werden. Wenn Armut für viele,
darunter immer mehr Kinder, zum Alltag gehört.
Gemeint ist auch der kalte Zynismus, der manche Debatte prägt.
Wenn große Unternehmen trotz hoher Gewinne Tausende Beschäftigte
„freisetzen“ und das heißt: sie in die Arbeitslosigkeit entlassen.
Wenn über die Gewaltbereitschaft Jugendlicher gejammert wird, aber
Nichts unternommen wird, der Gewaltverherrlichung in Film und
Fernsehen Einhalt zu gebieten.

“Mitten im kalten Winter“ – dabei denke ich auch an Beziehungen, in die
Frost Einzug gehalten hat. Die erstarrt, abgestorben sind.
Ich denke an erkaltete Hoffnungen. An inneres Frieren. An seelische
Erstarrung.
                                                      
Mitten in der Kälte, die wir um uns herum, aber auch in uns wahr-
nehmen, plötzlich eine Rose!
Etwas Vollkommenes, etwas vollkommen schönes!
„Die Ros is ohn warum, sie blühet, weil sie blühet“, heißt es in einem
alten Gedicht. Und in einem modernen:
„ Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“

Die Rose, Bild der Zärtlichkeit. Symbol der Liebe.
Die Rose für alle, die unter der Kälte des Winters leiden. Für alle, die
„ nicht auf Rosen gebettet sind“, sondern die soziale Kälte auch unserer
Gesellschaft zu spüren bekommen.
Die zarte Rose auch für die Harten, die rücksichtslos ihren Weg gehen.
Die Rose für alle, die in frostigen und erstarrten Beziehungen leben
und leiden. Für alle, deren Hoffnungen erkaltet, deren Seelen erstarrt
sind.

Mitten im Kalten Winter – eine Rose !
Das Wunder von Weihnachten:
Im Eis unserer Seelen, in der Kälte unserer Beziehungen blüht Liebe  auf.
Gott kommt uns nahe. Gott ist Mensch geworden. Ist Liebe.
Ist wie die Rose, die dort aufblühte, wo der Winter am kältesten war.

Ich wünsche Ihnen Frohe Weihnachten!

Ihre Helga  Warsen von der Evangelischen Kirche


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Schlussmusik: Michael Praetorius, Es ist ein Ros entsprungen
                        Strophe 3

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Die Textauszüge sind entnommen aus:

Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war
dtv 2003

 

Audiobeitrag „Mitten im kalten Winter“ – Vom Wunder der Weihnacht


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