Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

19.12.05, 6.56 Uhr, Hans Dieter Osenberg

Weihnachten - was ist das?

Letzte Woche vor Weihnachten. Der Einkaufsmarathon kommt auf den Höhepunkt. Mistelzweige und Plätzchenduft. Weihnachtslieder und Lichterketten. Spendenrummel

und Vereinsfeiern. Ich stelle mir einmal vor, man könnte alles, was sich bei uns für diese Wochen so angesammelt hat, abschminken. Ablösen wie mehrere dicke Farbschichten von einer alten Wand. Was käme dann zum Vorschein? Was bleibt, wenn man sogar einmal absieht vom Glauben?

Es bleibt ein Ereignis, das gewiss Mühe hätte, überhaupt in die Schlagzeilen der Presse oder des Fernsehens zu geraten:

In einem römisch besetzten Land des Vorderen Orients wird ein Junge geboren. Ein kleiner Jude. Wo? Weiß man nicht genau. In Nazareth, in Bethlehem? Auf jeden Fall in einem kleinen Provinznest. Wann? Weiß man auch nicht so genau. Irgendwann zwei oder drei Jahre vor oder nach dem Beginn unserer Zeitrechnung.

Das Kind wächst heran, und der junge Mann, der schließlich daraus geworden ist, lässt sich in einer jüdischen Sondergemeinschaft taufen. Abseits des Tempels, in freier Natur. Er sammelt ein Dutzend Männer und Frauen um sich und zieht mit ihnen durchs Land. Mutter und Geschwister verstehen ihn nicht, halten ihn für überspannt.

Sein Auftreten ist bescheiden. Aber Asket ist er nicht. Er isst und trinkt gern und ist nicht wählerisch, was seine Gesellschaft angeht. Die von anderen Gemiedenen ziehen ihn am meisten an. Kranke befreit er von Dämonen. Aber was viele von ihm erwarten - nämlich einen politischen Umsturz im Land herbeizuführen - daran denkt er nicht. Seine Reden in knappen, bilderreichen Worten hält er in einer jüdischen Dialektsprache. Er fühlt sich zwar in seiner Religion zu Hause, aber von frommen Leistungen, mit denen man sich brüstet, hält er gar nichts.

Deshalb und weil er auch noch mit anderen öffentlich geäußerten Meinungen Unruhe stiftet, lauert man ihm auf. Er wird verhaftet. Seine Sympathisanten lassen ihn im Stich. Nach einem Prozess, den man im einzelnen nicht mehr aufklären kann, wird er von den Besatzern des Landes hingerichtet. An einem wieder nicht genau gesicherten Datum. Aber seine Freunde sagen drei Tage später, er lebe, ohne dass man es beweisen kann.

Wie gesagt, wenn man das ganze weihnachtliche Lametta einmal weg lässt, bleibt dieser nackte Lebenslauf. Zweitausend Jahre und drei Flugstunden von hier entfernt.

Und nur der Glaube verbindet mit diesem Leben, das höchstens ein bis zwei Jahre ein öffentliches Leben war, - nur der Glaube verbindet mit diesem Leben Gott.

Ich wollte es nur noch einmal sagen. Es könnte ja sein, dass manche nicht mehr so genau wissen, warum sie sich diese Woche ins Getümmel begeben und warum aus den Lautsprechern der Kaufhäuser ein Liederteppich über uns ausgebreitet wird. Und dann könnte es sich ja vielleicht sogar ereignen, dass einzelne für sich ganz andere, ganz neue Folgen ziehen aus diesem Leben zwischen Mittelmeer und Jordan.

Andere Folgen, als die Reichen jedes Jahr zu Weihnachten immer nur noch reicher zu machen.

Audiobeitrag Weihnachten - was ist das?


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