Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

23.12.05, 6.56 Uhr, Hans Dieter Osenberg

Bei Christus geht nichts verloren

Was ist es denn eigentlich, was vielen unter uns gerade vor Weihnachten und erst recht zum Fest selbst die Tränen in die Augen treibt? Ich denke, in einer Zeit des Wünschens

und Kaufens sind es die Verluste. Es ist das Verlorene, dem man nachtrauert. Etwas ist unwiederbringlich dahin - liebe Menschen, tiefe Beziehungen, vertraute Städte, Abschnitte des eigenen Lebens - und ich merke mehr als zu anderen Zeiten im Jähr: das lässt sich nicht mehr zurückholen.

Kürzlich bin ich nach längerer Zeit noch einmal durch meine Heimatstadt gegangen. Sicher, die Straßenzüge sind noch alle bekannt, man findet sich mühelos zurecht. Aber das meiste hat seine Vertrautheit verloren, weil die Menschen nicht mehr da sind, die in der Erinnerung untrennbar dazugehörten. Straßen, in denen man früher mehrere bekannte Anlaufstellen gehabt hätte, zeigen sich plötzlich kalt und abweisend. Plätze, Geschäfte, Schulen, bei deren Anblick sofort ein ganzer Film mit vielen Geschichten im Kopf abläuft, erscheinen wie aus einer fremden Welt.

Nur auf dem Friedhof ist alles ganz anders. Da geht man keinen Weg entlang, ohne dass über die Namen auf den Grabsteinen eine alte, vertraute Stadt wieder aufersteht, mit Nachbarn, Lehrern, Freunden und Freundinnen der Familie. Auch mit Gemiedenen und Gefürchteten und mit allem, was sich zwischen diesen Menschen abgespielt hat.
Verluste, die man nicht mehr ausgleichen kann. Was einem auf solchem Rundgang durch die Stadt seiner Jugend widerfährt, zeigt sich im Leben in vielen Facetten:

Selten geht von Klassentreffen mit früheren Mitschülern das aus, was man sich vorher von ihnen erhofft. Ideale und Vorstellungen, für die man sich einmal engagiert eingesetzt hatte, erzeugen bei Kindern und Enkeln oft nur ein müdes Lächeln. Durchlebte schwere Zeiten lassen sich Nachgeborenen nicht mehr erzählend vermitteln. Die schönsten Fotos von verstorbenen Lebenspartnern geben nicht wieder, was man mit ihnen erlebt und was man von ihnen empfangen hat. Migrantenfamilien unter uns fühlen sich wie amputiert, weil hier niemand etwas von ihren Jahren in Russland oder Afrika wissen will.

Auch der christliche Glaube hat etwas verloren. Unter den vielen Titeln, die Jesus im Laufe der Zeit zugewachsen sind, war ursprünglich auch der des großen "Wiederbringers". Nur in einem einzigen Liedvers des Liedes "Ich steh an deiner Krippen hier" ist er noch erhalten geblieben:

"Lasset fahr'n o liebe Brüder, was euch quält, was euch fehlt, ich bring alles wieder."

Christus bürgt dafür, dass nichts verloren ist, was ein Leben, was Beziehungen reich gemacht hat. Es wird mit seiner Person wieder da sein. Er wird es mitbringen. Sicher nicht im Urzustand. Vieles verklärt sich ja auch in unseren Erinnerungen. Viel Menschliches ist mit viel Unmenschlichem verquickt gewesen. Nicht alles Vergangene war schön. Aber so, wie die Naturwissenschaftler sagen, dass keine Energie in der Welt verloren gehen kann, so ist bei Christus aufbewahrt, was in Liebe empfangen, gegeben und erlebt wurde.

Helmut Gollwitzer hat es in einer kleinen Summe des Glaubens einmal so zusammengefasst:

"Alles, was wir tun, hat Folgen bis in die Ewigkeit. Es hört nichts auf. Es bleibt nichts vergessen. Es kommt alles noch einmal zur Sprache. Es geht nichts verloren."

 

Audiobeitrag Bei Christus geht nichts verloren


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