Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

22.12.05, 15-16 Uhr, Kerstin Hanke

Traditionen

„Junge“, sagte mein Vater, „du bist alt genug. Weihnachten machen deine Mutter ich mal endlich eine Kreuzfahrt.“ Ich war 18 und fand diese Idee ziemlich großartig.

Endlich mal keine Familienfeier. Keinen Gänseebraten, keine Geschenkorgie und keinen ordentlichen Mittelscheitel extra für Oma ziehen. … „Fahrt ihr nur. Viel Spass…!“

Den Morgen vom Heiligen Abend verbrachte ich erst mal mit ausschlafen. Die Christmas Party am Vorabend war lang, laut und lustig gewesen. Mittags stand ich dann mal auf. Der Kühlschrank  - leer.  Ich ignorierte den knurrenden Magen und machte es mir vor dem Fernseher gemütlich. Das komplette Bescherungsprogramm:  „Wir warten aufs Christkind….“

Vier Stunden später war ich das leid. Irgendwer musste doch auch da sein und nicht alleine feiern wollen. Also rief ich sie alle an. Meine Freunde. Ingo, Carsten, Chris, Ina, Henry….“Du, keine Zeit. Ich muss zu meinen Eltern. Frohe Weihnachten.“ Kriegte ich achtmal zu hören.

 Weihnachten alleine feiern ist öde. Ich packte das Geschenk aus, das meine Eltern dagelassen hatten. Dann bin ich einfach wieder in Bett gegangen. Weil ich mich unendlich leer und einsam fühlte. Auch wenn ich mir das nicht so richtig eingestehen wollte.  Am nächsten Morgen um neun klingelte das Telefon:

Es war Oma. „Um 12 Uhr steht das Essen auf dem Tisch. Sei pünktlich!“ Da habe ich mir das erste Mal so richtig gerne einen Mittelscheitel gemacht. Und was begriffen. Dass manche Dinge, die nervig sind,  einem schrecklich fehlen können.

Sprecher: Michael Birgden, Köln

 

Audiobeitrag Traditionen


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