Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

11.12.05, 8.05 Uhr, Hellmut Wiegand

Gottesbegegnung - oder: wie sieht eigentlich Gott aus?

Wie sieht eigentlich Gott aus? Diese Frage habe ich mir als Kind oft gestellt und dabei habe ich in verschiedenen Variationen das Bild eines alten Mannes mit Bart vor

Augen gehabt – so wie ich es oft auf alten Bildern gesehen habe.
Seit ich erwachsen bin, stelle ich mir die Frage nicht mehr.
Neulich allerdings, da habe ich - ohne, dass ich an diese Frage auch nur im Entferntesten gedacht hatte - eine überraschende Antwort bekommen auf die Frage, wie Gott wohl aussieht. In einer Situation und einer Art mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Da habe ich Gott nämlich gesehen. Gott mit einem Gesicht - oder vielleicht richtiger: Gott in einem Gesicht.

Davon will ich Ihnen heute erzählen, liebe Hörerin, lieber Hörer.

Ich heiße Hellmut Wiegand, bin evangelischer Pfarrer und begleite im Predigerseminar der westfälischen Landeskirche Theologinnen und Theologen in ihrer Ausbildung zur Pfarrerin und zum Pfarrer.

Musik

Autor:
Es war noch dunkel, als wir uns früh am Morgen trafen. Wir drei Männer und neunzehn Frauen. Uns verband das Suchen nach neuen religiösen Erfahrungen, anderen als denen, die im kirchengemeindlichen Alltag möglich sind. In einem alten Kloster hatten wir uns zu einem Wochenende mit Körpergebet, Liturgischem Tanz und Schweigen angemeldet.
Voneinander wussten wir nur wenig – außer, dass wir alle auf der Suche waren. Und natürlich das, was wir in diesen Tagen aneinander beobachten und wahrnehmen konnten. Das war überraschend viel. Geredet wurde ja nicht.

Am letzten Tag stand die Begegnung mit dem Labyrinth auf dem Programm. Labyrinth - was hat das mit religiöser Erfahrung oder gar mit Gott zu tun? Labyrinth – ist das nicht so ein verschlungenes Netz von Wegen, das vor immer neue Wegmöglichkeiten stellt, die jeweils in die Irre führen können?
Oft wird das Labyrinth heute so verstanden und dann genutzt als Spiel- und Spaßmöglichkeit. Als Irrgarten gewissermaßen, in dem man sich herrlich verlaufen kann und aus dem man, wenn man einmal darinnen ist, nur schwer wieder einen Weg hinaus findet.

Tatsächlich aber ist das Labyrinth etwas ganz anderes. Kein Irrgarten, sondern ein gezielter Weg.  Das Labyrinth gehört zu den ältesten Menschheitssymbolen und kommt in verschiedensten Religionen vor. Schon die frühe Christenheit hat es als Symbol für den Weg  in das Innere entdeckt und genutzt. So habe ich es in der Vorbereitung auf das Klosterwochenende gelesen. Das faszinierende am Labyrinth ist, dass der Weg des Labyrinthes eben nicht in die Irre, sondern auf vorgegebenem, wenn auch verschlungenem Weg genau in die Mitte führt.

In vielen Kirchen und Kathedralen hat es früher solche Labyrinthe gegeben, manchmal ganz kleine, die man nur mit dem Finger nachzeichnen konnte, häufig auch beeindruckend große, die den Fußboden eines ganzen Kirchenschiffes ausfüllten. Das bekannteste Kirchenlabyrinth ist sicherlich das in der Kathedrale von Chartre.

Nun stand ich also vor solch einem Labyrinth in dem alten Klosterhof. Vor einigen Jahren wurde es nach einer alten Vorlage neu angefertigt. Und mit mir standen dort die anderen Männer und Frauen unserer Gruppe. Etwas ratlos noch, aber gleichzeitig ausgesprochen neugierig. Was werden wir hier machen und wie wird das werden? Zum Glück gab es eine klare Anleitung unserer Begleiterin dieses Wochenendes. Der Ablauf entsprach einem bestimmten Ritual.

Wir bildeten zunächst einen Kreis und nahmen das Labyrinth, das sicher einen Durchmesser von 15 Metern hatte, in unsere Mitte. Es war schön aus Pflastersteinen gelegt. Rundherum die alten Gemäuer eine beeindruckende Kulisse.
Mit unseren Augen versuchten wir den Weg des Labyrinthes nachzuzeichnen. Am Eingang beginnend, den vorgegebenen Markierungen folgend. Das war nicht ganz einfach, gab es auf dem Weg doch immer wieder sehr überraschende Wendungen nach innen oder außen. Der Weg war zwar deutlich erkennbar aber zugleich auch verwirrend. Glaubte ich schon fast in der Mitte angekommen zu sein zu sein, so fand ich mich einige Meter weiter gleichsam wieder an der Außenlinie des Labyrinthes - bislang ja nur mit meinen Augen.
So sind wir alle - glaube ich - den Weg im Geiste schon einmal vorgegangen. Den Weg, den wir gleich wirklich gehen sollten.

„Es wird Dein Weg in die Mitte sein“, hörte ich unsere Begleiterin sagen, „in die Mitte deines Lebens. Geh den Weg achtsam und aufmerksam und bleib dabei ganz bei Dir. Die anderen werden mit Dir in das Labyrinth gehen. Haltet einen guten Abstand zueinander und geht in dem Rhythmus, den ich mit dem Schlagholz vorgebe. Wenn Du in der Mitte ankommst, tritt in den inneren Kreis und nimm eine Körpergebetshaltung ein, die dir dort angemessen erscheint.“

Es waren sehr unterschiedliche Gebetshaltungen, mit denen wir am Vortage Erfahrungen gemacht hatten: die Arme ausgebreitet oder zum Himmel gestreckt, kniend und dabei mit aufrechtem Körper die Hände gefaltet, oder mit der Stirn den Boden berührend, zuletzt auch flach auf dem Boden liegend – so haben wir ohne zu sprechen gebetet. Erstaunlich, wie man mit dem Körper beten und was der Körper selber als stummes Gebet ausdrücken kann.
 „Was wird meine Gebetshaltung sein, wenn ich in der Mitte ankomme?“, dachte ich. „Und werde ich überhaupt beten können dort?“

„Ich werde dann den Rhythmus unterbrechen“, hörte ich unsere Begleiterin sagen, „und alle bleiben dort stehen, wo sie gerade angekommen sind. Dann wendet Euch alle der Mitte zu und macht eine schützende, bergende, segnende Geste zu dem Menschen, der in der Mitte ist. Ihr werdet spüren, wie gut das ihm und euch tun wird.“

Dann ging es los. Die ersten von uns betraten das Labyrinth. Im Außenkreis rückten wir nach. Schritt für Schritt kam ich so dem Eingang des Labyrinthes näher.

Vor mir ging Anne hinein, eine junge Frau, deren trauriger Gesichtsausdruck mich schon einige Male angerührt hatte. Dann stand ich am Eingang des Labyrinthes, suchte mit meinen Augen noch einmal den Weg. Er führte zunächst auf die Mitte zu -sehr direkt - bog dann ab wieder nach außen, führte kreisförmig um die Mitte herum – in wechselnden Abständen.

„Wie im richtigen Leben“, dachte ich, „mal lebe ich sehr konzentriert auf die Mitte hin und dann finde ich mich plötzlich ganz am Rande wieder.“ Ich ging los.

Musik

Ganz konzentriert, die Arme vor der Brust gekreuzt, ging ich los. Im Dreischritt gingen wir - so war es verabredet - zwei Schritte nach vorne, ein Schritt zurück, Pause.
Mit dem Schlagholz wurde das Tempo vorgegeben: Tok, Tok, Tok. Es war eine ritualisierte Bewegung, alle im gleichen Rhythmus. Ein wunderbares Gefühl und – von außen betrachtet – sicherlich ein reizvolles Bild. Aber mehr und mehr geriet dies in den Hintergrund, dafür wuchs die Konzentration auf mich selber. Nur Anne vor mir nahm ich noch war. Sie weinte leise. Ich fühlte mich ihr verbunden. Sie zog mich - bei allem Abstand - gewissermaßen mit in das Labyrinth hinein - oder schob ich sie?

Es war ein langer Weg in die Mitte, die ja Symbol sein sollte für die Mitte meines Lebens. Zahlreiche Erinnerungen stiegen in mir hoch. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Und immer wieder der: Was wird sein, wenn ich in die Mitte trete? Nach schier endlos langer Zeit und auf vielerlei Umwegen hatte ich das Ziel fast erreicht.

Anne vor mir blieb stehen – der letzte Schritt in die Mitte schien ihr schwerer als jeder Schritt vorher. Dann ging sie hinein, fiel auf die Knie, warf sich auf den Boden und blieb liegen - ein Weinkrampf schüttelte sie. Das gleichmäßige Tok, Tok, Tok war unterbrochen. Wir drehten uns, da wo wir gerade auf dem Weg des Labyrinthes standen, zu ihr hin und hoben - zeichenhaft - schützend und bergend unsere Hände über sie.

Anne muss das gespürt haben. Ganz plötzlich stand sie auf, streckte Hände und Gesicht zum Himmel, drehte sich abrupt um und kam auf mich, der ich jetzt am Eingang zum Mittelkreis stand, zu mit einem Strahlen im Gesicht, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Schon war sie an mir vorbei auf dem Rückweg, der ähnlich unübersichtlich war, wie der Weg hinein ins Labyrinth.

Nun sollte ich in den Mittelpunkt treten. Aber es ging nicht. Zu sehr hatte mich das Gesicht von Anne fasziniert. In den Bann gezogen. Ich musste einfach hinter ihr her gehen.
Die Schlagstöcke gaben auch für den Rückweg das Tempo vor - Tok, Tok, Tok - und so folgte ich ihr langsam und schweigend in angemessenem Abstand.

„Was ist passiert, Anne?“, hörte ich mich plötzlich tief drinnen in mir fragen. Ein Dialog mit Anne schien in meinem Inneren zu entstehen. „Ich weiß es nicht genau“, hörte ich sie in mir sagen, „ich weiß nur, dass es wunderschön war.“
„Und dein Gesicht? Was war mit deinem Gesicht? Ich habe noch nie einen Menschen so strahlen sehen.“ „Von mir ist alles abgefallen“, hörte ich sie sagen, „am Anfang war es so furchtbar!“ „Ich habe dich weinen hören.“ „Ja, es kam alles hoch, was in meinem Leben schief gelaufen ist, und das war nicht wenig. Es war schrecklich. Ich dachte schon, ich könnte nicht weiter gehen, aber dann musste ich einfach in die Mitte. Obwohl ich wahnsinnige Angst hatte. Und als ich in der Mitte lag, ganz schutzlos und ausgeliefert, da wurde es plötzlich ganz klar, alles fiel von mir ab. Ich hab mich noch nie so frei gefühlt.“ „Und wie kam das?“, hörte ich mich sagen. „Ich glaube ich bin Gott begegnet“, hörte ich Anne erwidern.

Inzwischen waren wir weiterhin schweigend am Ende des Weges angelangt, standen nun, unseren Empfindungen und Gedanken nachgehend, am Rande des Labyrinthes. Wie gerne hätte ich Anne jetzt angesprochen, aber – wir waren im Schweigen. So blieb ich bei mir und spürte, wie ich eifersüchtig auf Anne wurde: Anne ist Gott begegnet! Warum nicht ich? Ich stand doch auch schon fast in der Mitte. Warum habe ich den letzten Schritt nicht gewagt? Hab mich ablenken lassen? Chance vertan, dachte ich enttäuscht. Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in mir aus.

Dann sah ich noch einmal Annes strahlendes Gesicht und – ich weiß bis heute nicht wie es geschah – die ganze Traurigkeit fiel von mir ab.
Ich hätte aufschreien können, tanzen, singen, weinen – alles zugleich. Ein lautes „Ja“ entfuhr mir, mitten hinein in das versammelte Schweigen.
Und ich war mir sicher: Anne ist Gott begegnet und ich - ich habe Gott in Annes Gesicht gesehen.

Musik 

Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen, und eine Advents- und Weihnachtszeit, in der Sie offen sind für die Begegnung mit Gott - an allen möglichen und auch unmöglichen Orten, vielleicht auch in einem Gesicht, das Ihnen bislang gar nicht als etwas besonderes aufgefallen ist.  Hellmut Wiegand von der Evangelischen Kirche in Schwerte.

Musik

 

Audiobeitrag Gottesbegegnung - oder: wie sieht eigentlich Gott aus?


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