Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

6.12.05, 7.50 Uhr, Hermann Pressler

„Uns ist ein Kind geboren“

„Wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt ein ganzes Universum.“ Diese Worte hat uns die jüdische Tradition überliefert. Sie besagen nicht, am Leben eines einzelnen Menschen

hänge der Fortbestand der Welt an sich. Hinter diesen Worten versteckt sich auch nicht der destruktive Wunsch: Wenn ich zugrunde gehe, dann soll alles um mich herum mit zugrunde gehen. „Wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt ein ganzes Universum“, soll nicht heißen, mit mei-nem Ende wäre alles zu Ende. Wer so dächte, würde nur seine krankhafte und auch lieblose Selbstüberschätzung zu erkennen geben.

Umgekehrt: Wer sich sagen kann: das Leben wird weiter gehen, ich war ein Teil davon, ich durfte durch meinen unverwechselba-ren Farbtupfer des Lebens Buntheit vermehren und zur Lebens-freude auch nur eines anderen Menschen in einem einzigen Mo-ment beitragen, ich konnte Liebe geben und empfangen, ich wurde gebraucht -, der kann am Ende damit einverstanden sein, dass alles weiter geht – ohne ihn.

Man kann loslassen, wenn man weiß, dass nicht alles an einem hängt – und dass man nicht selbst an allem, am Universum, hängt. „Wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt ein ganzes Universum“, ist also auch kein Satz, der das Abschiednehmen noch schwerer machen möchte, als es ohnehin schon ist.

Dieser Satz denkt aber nun doch sehr hoch vom einzelnen Men-schen. Und er stimmt ja auch. Wenn jemand stirbt, dann nimmt er in gewisser Weise seine ganze Welt mit. Alles, was er gedacht und gewusst und erfahren hat, verschwindet mit ihm. Und insbesonde-re: das, was er hätte noch denken und erfahren können. Er nimmt sogar Erinnerungen mit an Menschen, die womöglich nur er allein noch hatte. Man könnte also sogar sagen, dass mit dem je eigenen Tod nicht nur die eigene Welt vergeht, sondern womöglich auch die letzten Reste der Welt anderer, Vergangenheit und persönliche Erinnerung fallen dem Vergessen anheim.

Das aber heißt: Das Leben eines einzelnen Menschen ist unendlich kostbar. Es darf mit nichts verrechnet werden. Die Wertigkeit, nach der wir rechnen – viele sind mehr oder gar wichtiger als einer – ist außer Kraft gesetzt. Mit anderen Worten: Die Achtung vor dem Großen und Ganzen und Grenzenlosen, dem Universum, hat in der bedingungslosen Achtung der begrenzten, einzelnen Person ihren Grund.

Vor wenigen Wochen stand ich am Grab eines guten Bekannten und Kollegen. Er starb mit 50 Jahren. Jeder weiß, dass wir am Grab eines Menschen diesem nicht alle gleich nah sind. Und jeder von uns empfindet am Grab eines Verstorbenen daher unterschied-lich tiefe Gefühle der Trauer und des Verlustes. Aber machen wir uns bewusst: Wer immer da vor uns im Grab liegt, der uns gekannt und ein Stück Wegs mit uns gegangen ist: er oder sie nimm uns - oder genauer - die Welt mit, in der wir einen bestimmten Platz hatten. Auch unser Leben, wie es sich im Universum des Toten darstellte, ist in der Vergänglichkeit verschwunden.

Auch wir sind – ganz wörtlich - in einer Hin-Sicht mit gestorben. Umso mehr ist denen ein Weltuntergang geschehen, die den Toten als Ehefrau und Sohn, als Mutter und Vater beweint haben. Er war der Eckstein ihres Weltgebäudes. Das Universum, in dem sie jetzt unterwegs sind, ist ein anderes.

Wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt ein ganzes Universum. In einem Adventslied des Evangelischen Gesangbuches heißt es in einem Vers:

Sprecherin:
„Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf. Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf und ruft: ‚Uns ist ein Kind geboren.’“

Autor:
Seit jenes Kind in der Krippe lebt, lebt das ganze Universum, die Lebenden und die Toten, kraft der Liebe Gottes.

Audiobeitrag „Uns ist ein Kind geboren“


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