Die Nacht ist vorgedrungen
Beinahe unhörbar arbeitet das Uhrwerk. Viel zu langsam wandern die matt floureszierenden Zeiger über das Zifferblatt.
Wann endlich ist die Nacht vorbei? Wann kündet der Silberstreif, der Morgenstern den nahen Tag?
Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. so sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.
Da liegt einer ohne Schlaf. Wälzt sich auf zerwühlten Laken, unter schweißkalten Decken. Die Augen geschlossen. Die Augen geöffnet. Sorgen kreisen in seinem Kopf: Was ist, wenn? Was wäre gewesen, wenn nicht? Schreck lässt ihn aus dem Halbschlaf fahren, in den er gerade gnädig geglitten war.
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein
Was ist es, das den, der diese Zeilen niederschreibt, so beunruhigt? Wir ahnen es nur. Der Dichter Jochen Klepper war mit einer Jüdin verheiratet. Das Lied entstand in Berlin, im Jahr 1937, ein Jahr vor der Reichspogromnacht,
in der wohlorganisiert von den Schlägern der Nationalsozialisten die Schaufenster jüdischer Geschäfte eingeschlagen wurden, Synagogen angezündet und Zehntausende Juden in Vernichtungslager verschleppt.
Die Nacht ist vorgedrungen...
Der diese Zeilen schreibt fühlt sich und seine Familie aufs äußerste bedroht. Es sind so viele Neins, die er zu hören bekommt.
Das Nein der Eltern als er eine 12 Jahre ältere Frau heiratet. Das Nein der Personalbüros, als er sich um Arbeit als Journalist bemüht. Das Nein der staatlichen Stellen, als er sich und seine Familie durch Ausreise zu retten versucht. Und hinter all diesen Neins, die er von Menschen zu hören bekommt* wächst mit jedem mal größer ein anderes Nein. Das Nein eines fordernden Gottes, das Jochen Klepper zu vernehmen glaubt:
Du liebst nicht brennend genug. Du kämpfst nicht beherzt genug. Du planst nicht umsichtig genug. Du arbeitest nicht hart genug. Es reicht nicht, was du tust. Es genügt nicht. Du genügst nicht!
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.
Die meisten von uns empfinden Gott gegenüber keine Schuld. Vielmehr sind es die Forderungen der Menschen um uns her, die uns zu schaffen machen.
Und doch: Eine Frage stellt sich dem Dichter und uns in der Adventszeit auf gleiche Weise: Kann für mich dieses Jahr Weihnachten werden? Kann ich zur Ruhe finden in all der Hetze, in all den von innen und außen gesetzen Ansprüchen, die mich jagen? Wie finde ich etwas von der Erlösung, von dem großen, befreiten Aufatmen, das die Weihnachtsgeschichte seit nun zwei Jahrtausenden verspricht?
Macht euch zum Stalle auf, rät der Dichter. Ich habe dort etwas entdeckt, was ich mir vorher nicht habe Träumen lassen. Ich habe Gott als Verbündeten entdeckt. Der, den ich mir als unerbittlichen Ankläger vorgestellt habe, entpuppt sich als mein Fürsprecher. Gott, dessen Strafe ich gefürchtet habe, tritt mit einem mal für mich ein.
3. Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah
Wie ein Aufatmen geht diese Erkenntnis durch die Strophen des Liedes. Doch woher nimmt der Verfasser die Gewissheit, dass sie keine Einbildung ist? Er ist deshalb so sicher, weil er auf das Kind in der Krippe schaut und begreift und annimmt, was dazu in der Bibel geschrieben steht: Das Nämlich Gott selbst* in diesem Kind anwesend ist.
Dem alle Engel dienen,
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Der für Menschen unfassbare und unermessliche Gott verwandelt sich, wird Mensch, wird Kind. Und damit verwandelt sich die Welt. Das ist die neue sicht der Dinge, zu der das Lied vordringt: Was ich als feindlich empfinde, als fremd fordernd und bedrohlich, wandelt sich eine Welt, in der Gott gegenwärtig ist, in eine Wirklichkeit der Versöhnung. All die strengen Über-Ich-Figuren, an die sich meine Ängste und Befürchtungen heften, sind mit einem mal für mich, unterstellen mir Gutes. Durchschauen mich - nicht um mich zu entlarven, sondern um mich zu verstehen. Nehmen mich an als folgerichtige, in sich stimmige Persönlichkeit.
Wir gehen zu auf das Fest der Verwandlung, Herr,
weil du dich wandelst, verwandelt sich die Welt.
Stärke unseren Glauben daran.
Wandle unsere Trauer in Freude.
Wandle unseren Schmerz in Stille.
Wandle unsere Angst in Segen,
und unsere Schuld wandle in Versöhnung.
Die Nacht ist vorgedrungen
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