Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

13.11.05, 8.05 Uhr, Hermann Pressler

Unser kurzes Gedächtnis - Zum Volkstrauertag 2005

Februar 2003: US-Außenminister Colin Powell plädiert im Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen für einen Angriff auf den Irak. Grund: dessen angebliche Massenvernichtungs-

waffen.. Vor kurzem konnte man lesen: Der ehemalige Außenminister fühle sich „furcht-bar“, und: „Es war schmerzlich. Es ist jetzt schmerzlich“, sagte er, da sich die „Beweise“ längst als pure Kriegspropaganda herausge-stellt haben. Ein „Schandfleck“ in seiner Karriere sei seine damalige Argumentation.

Colin Powell zeigt sich bestürzt. Trauert. Zeigt Reue und Scham.

Schätzungen zufolge sind im Irakkrieg bis heute weit mehr als 100.000 Menschen getötet worden. Daran erinnere ich, weil wir heute, am Volkstrauertag, auch trauern „um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung.“ -  So steht’s im offiziellen Text des Toten-gedenkens. So können wir es heute Morgen an den Kriegerdenk-malen und in der Feierstunde des Deutschen Bundestages in Berlin hören.

Der Blick im Totengedenken auf „unsere Tage“ ist einer Einsicht geschuldet: Der Volkstrauertag als staatlicher Feiertag und kollektive Erinnerung an „die Soldaten, die in den Weltkriegen starben… (an die) Menschen, die…als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren“, muss verbunden werden mit einer fortdauernden Hoffnung. Mit der Hoffnung, dass sich der Friedenswille unter den Menschen einmal stärker erweisen wird als Intoleranz und Gewaltbereitschaft.

Deswegen heißt es am Schluss des Totengedenkens:“…unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.“

In diesem Sinne möchte ich heute Morgen nachdenken über einen guten Grund dieser Hoffnung. Ich bin Pfarrer Hermann Preßler aus Neuss

  Woher kommt die Hoffnung auf Versöhnung und Frieden? Man könnte ja annehmen, der Schrecken des Krieges und die Erinnerung der Menschen daran, die diesen Schrecken in den vielen Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte stets aufs Neue erlebt haben, immunisieren uns gegen den Krieg. Aber wir Menschen scheinen ein kurzes Gedächtnis, eine ungeheure Leidensfähigkeit und einen unbändigen Aggressionstrieb zu haben. Als könnten wir von Natur aus nicht anders, als uns nach kürzeren oder längeren Abständen zu bekriegen. Das Entsetzen und das kurze Gedächtnis - beide kommen in dem Gedicht von Günter Kunert zur Sprache:

Sprecherin:
Als der Mensch
Unter den Trümmern
Seines
Bombardierten Hauses
Hervorgezogen wurde,
Schüttelte er sich
Und sagte:
Nie wieder.
Jedenfalls nicht gleich.

Musik 1:

Autor:
„Nie wieder Krieg“ war der feste Glaube und der dringendste Wunsch unzähliger Menschen nach dem 2. Weltkrieg mit seinen über 55 Millionen Toten. „Aus Schaden wird man klug“ – das mag für einzelne Menschen gelten im Anschluss an Erfahrungen des persönlichen Lebens, nicht aber für das Zusammenleben von Staaten, Völkern, Kulturen und Rassen. Mit der Zeit scheint auch der größte Schrecken zu verblassen. Und aus dem „Nie wieder“ wird ein „Jedenfalls nicht gleich“, und etwas später kann der Mensch der Versuchung nicht mehr widerstehen und fragt: „Warum nicht?“

Warum nicht, wenn „die anderen“ zum Krieg rüsten und mich zwingen, ihnen zuvor zu kommen, da doch Angriff die beste Verteidigung ist und in bester Absicht geschieht, Schlimmeres zu verhüten? So legen wir uns Gründe, Kriegsgründe, zurecht und dem „Warum nicht“ folgt stets ein „Noch dieses eine Mal“.
 
Erinnerung allein, so wichtig sie natürlich ist, vermag den Menschen jedenfalls nicht von dem Gedanken abzubringen, dass der Krieg, wenn schon ein Übel, dann aber doch ein notwendiges, naturgegebenes sei


Vielleicht liegt es ja nicht nur an dem kurzen Gedächtnis des Menschen, dass er sich noch immer für den Krieg einspannen lässt, sondern auch an der Art der Erinnerung. Bis zum heutigen Tag haben viele Menschen ein zwiespältiges Gefühl gegenüber dem Volkstrauertag. Ja, bei sehr, sehr vielen aus der jungen Generation ruft dieser Tag heute gar keine Gefühle mehr hervor. Ihnen fehlt schlicht jedes Wissen über den geschichtlichen Hintergrund.

Ich blicke zurück auf die 60er, 70er Jahre, wenn ich von meinem eigenen zwiespältigen Gefühl spreche. In meiner Familie und Verwandtschaft nahm man in dem pfälzischen Dorf, in dem ich groß geworden bin, am Volkstrauertag an der Gedenkstunde am Krieger-denkmal vor der Kirche teil. Unsere familiäre „Kriegesbilanz“ war nicht ganz so schlimm: Mein Vater, weil damals noch zu jung, war nicht an der Front; mein Großvater und der Bruder meines Vaters waren körperlich unversehrt zurückgekommen; meine Mutter hatte in den letzten Kriegstagen einen Fliegerangriff im Keller ihres zerbombten Hauses unverletzt überlebt; ihre gleichaltrige Nachbarin trafen Kugeln tödlich; ihr Cousin, 20 Jahre alt, war in Russland gefallen. Ich spürte als Kind, dass in meiner Familie und Verwandt-schaft und bei vielen anderen, die sich zur Feierstunde versammelt hatten, persönliche Trauer aufkam und dass es gut war, dass es dieses Gedenken an die Opfer des Krieges gab. Man wollte sie in ehrender Erinnerung behalten.

Gleichzeitig aber, und je älter ich wurde, umso mehr, bemerkte ich, dass in diesen jährlichen Feierstunden eine gewisse gespannte Atmo-sphäre herrschte, eine Spannung, die sich übrigens quer durch meine eigene Verwandtschaft zog. So als wäre man sich – jenseits der persönlich empfunden Trauer – über die Deutung dieses Gedenkens nicht einig.

Ich spürte im Dorf den Riss zwischen denen, die am Volkstrauertag zum Heldengedenken zusammenkamen und denen, die versuchten, aus dem Schrecken des Krieges eine Verpflichtung zum Frieden abzuleiten. Manche trauerten wegen des verlorenen Krieges, andere um seine Opfer.

Man muss in diesem Zusammenhang kurz in Erinnerung rufen: Den Volkstrauertag gab es, nach dem 1. Weltkrieg, seit 1922; 1934 funktionierten die Nazis ihn zum Heldengedenktag um. Nicht mehr Trauer, sondern Heldenverehrung sollte von nun an im Mittelpunkt stehen. Wie ich damals spürte, sorgte dieser Unterschied noch lange für die erwähnte Spannung, obwohl man bei uns 1948 natürlich wieder an die Tradition der Weimarer Republik angeknüpft hatte. Und es war durchaus so, dass man sich in den Dorfwirtschaften an den Stammtischen darüber die Köpfe heiß reden konnte

Das also war die Art der Erinnerung, mit der ich groß geworden bin.
Eine zwiespältige, wie gesagt. Dennoch: Kriegsverherrlichung ging in der Bundesrepublik vom Volkstrauertag nicht mehr aus. Aber der Gedenktag konnte natürlich nie an der Tatsache vorbei, dass auch in der Bundesrepublik das Denken nicht überwunden wurde:

Militär und Waffe und Krieg als letzte Möglichkeit, um zum Beispiel Menschrechte und Demokratie zu verteidigen oder aufzurichten, sind - wohl oder übel - notwendige Institutionen. Und militärstrategisch gilt, was Verteidigungsminister Struck feststellte:
Für „unsere Sicherheit“ und den „Antiterror-Kampf“ „… (ist) das mögliche Einsatzgebiet der Bundeswehr… die ganze Welt.“

Musik 2

Autor:
Die Art der Erinnerung an den Schrecken des Krieges hat nicht dazu geführt, ihm durch konsequente allseitige Abrüstung und kompromisslose Absage an jegliche Anwendung von Gewalt den Boden zu entziehen.

Es ist noch unerledigt, was der verstorbene Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der die kollektive Seele der Deutschen nach dem Krieg durchleuchtet hat, dem Menschen aufgetragen hat: „Wir müssen lernen, unsere Konflikte zu lösen, ohne dem Gegner nach dem Leben zu trachten.“ Noch immer aber liegen zum Beispiel weltweit 22 000 Atomwaffen bereit, um das Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Und die Amerikaner bringen den Einsatz solcher – weiterentwickelter - Atomwaffen ins Gespräch, um zum Beispiel, wie sie sagen, Kriege abzukürzen.

Dahinter hat sich eine sehr pessimistische Sicht des Menschen breit gemacht. Sie scheint davon auszugehen, Kriege seien unvermeidbar, deshalb seien Androhung und Anwendung militärischer Gewalt schlichter Ausdruck von Realismus.

Mir stellt es sich so dar, dass der Besitz von Waffen und einer überlegenen Rüstung schreckliche Kriege eher fördern, als sie verhindern können.

Mir scheint, wir verharren in dem alten Denken: Man müsse gewalttätig und gewaltbereit sein, wenn man den Frieden wolle.

Und weil dieses Denken so viele Anhänger findet, merken wir nicht, wie wir darüber unsere Menschlichkeit verlieren. Die Trauer über diesen Verlust könnte uns eines Tages erfassen, wenn es wirklich zu spät ist.

Wir sollten uns die Frage nicht verbieten, ob das Militär wirklich ein guter, gar alternativloser Dienstleister des Friedens ist. Mit anderen Worten: Ob wir unsere Hoffnung auf Frieden und Sicherheit bis ans Ende aller Tage auf militärische Stärke und Überlegenheit setzen sollten? Ob das wirklich „realistisch“ ist?

Meine Hoffnung liegt im christlichen Menschenbild begründet. Mit all den anderen Menschen weiß ich mich als Ebenbild Gottes geschaffen. Aus dieser göttlichen Ebenbildlichkeit heraus kann und soll ich Gott lieben und meinen Nächsten wie mich selbst. In dieser Perspektive sehe ich meine Mitmenschen - über alle Grenzen der Rassen, Religionen und Nationen hinweg.

Ich weiß, deswegen sind sie nicht alle gleich meine Freunde.
In der jüdischen Überlieferung des Talmuds heißt es: „Der ist ein Held, der einen Feind zum Freund macht.“ Das jüdisch-christli-che Menschenbild ist nicht so naiv, Feindschaft zwischen Menschen zu leugnen, aber es sieht Feindschaft als überwindbar an – durch das Angebot von Freundschaft, nicht durch die Demonstration von Stär-ke.

Mich gemeinsam mit allen anderen als Gottes Ebenbild zu glauben, bedeutet nämlich auch, dass mich ihre Not nicht kalt lässt. Gottes Liebe zu ihnen wie zu mir zieht mich in eine Mitliebe, ein Mitleiden hinein.

Es geschieht aber unter unsere Augen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich weltweit – auch in unserem eigenen Land – immer noch oder wieder weiter vergrößert.

Wir rüsten gegen Menschen auf und rüsten gegen den Hunger ab.

Wenn wir die Ungerechtigkeit nicht überwinden, dann jedoch fürchte ich, dass der Krieg uns alle überwindet.

Die Ebenbildlichkeit Gottes, die wir alle in uns tragen, ist in Jesus von Nazareth am hellsten erschienen. In dem Menschen, der mit sich selbst im Frieden war und uns seinen Frieden verheißt, wenn wir allem Hass in uns entsagen.

„Es ist ein eigenartiger Kommentar auf den Westen“, der sich doch zum Christentum bekennt, dass es „dort kein Christentum und keinen Christus gibt – sonst hätte es dort keinen Krieg gegeben“, sagte Mahatma Gandhi einmal

Am Volkstrauertag möchte ich uns an diesen Christus erinnern – als den guten Grund für unsere Hoffnung auf Frieden und Versöhnung.
Es verabschiedet sich von Ihnen Hermann Preßler aus Neuss von der evangelischen Kirche.

Musik 3

Audiobeitrag Unser kurzes Gedächtnis - Zum Volkstrauertag 2005


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