Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

25.11.05, 5.56 Uhr, Dr. Sven Keppler

Hast du ein Geheimnis für mich?

In wenigen Tagen beginnt die Adventszeit. Eine Zeit, in der alte Sehnsüchte mehr Raum bekommen als sonst. Der Wunsch nach einer glücklichen Familie. Nach einer

glücklichen Familie. Nach einer harmonischen Welt. Das ist auch bei Lárus so. Er ist der Held des Romans „Zuhause“ von Kristof Magnusson. Lárus ist auf Island aufgewachsen und erst am Ende seiner Grundschulzeit nach Hamburg gezogen. Weihnachten will er jedoch zuhause verbringen. Auf Island, wie jedes Jahr. Will dort seine alten Freunde treffen und eine ungetrübte Zeit mit ihnen verbringen. Weihnachten soll die Krönung eines gelungenen Jahres werden. Als er auf dem Flughafen von Reykjavík landet, erzählt Lárus:

Sprecher: Es war der Freitag vor dem ersten Advent. Langsam begann ich mir einzugestehen, dass auch dieses Jahr, das bisher schönste in meinem Leben, zu Ende gehen würde.

Der Grund seines Glücks ist Milan, sein Freund. Auch er soll diesmal nach Island kommen. Solange er noch nicht da ist, zieht Lárus ein paar Tage lang durch die Kneipen von Reykjavík. Irgendwann bemerkt er,...

Sprecher: ...dass ein Mädchen in einem Kleid vor mir stand, ihre dünnen Arme auf und ab bewegte und offensichtlich schon seit einigen Sekunden mit mir redete. „Was?“ fragte ich. „English“, sagte sie. „Yes“, sagte ich. „Do you have e secret for me?“ Hast du ein Geheimnis für mich?

Sprecher: Das Kleid des Mädchens war schwarz und hochgeschlossen. Es hatte etwas von einer Beichtsituation, und doch wirkte sie irgendwie naiv. Plötzlich wollte ich nichts mehr als ihr die Wahrheit sagen. Die unausweichliche Wahrheit: „Morgen fahre ich zum Flughafen und hole meinen Freund ab. Dabei hat er mit mir Schluss gemacht. Er wird nicht kommen.“

Und dann erzählt er ihr seine Geschichte. Vom Streit mit Milan und dass der sich von ihm getrennt hat.

Sprecher: Allen meinen Freunden habe ich erzählt, dass ich nur vorgefahren bin und er nachkommt. Auch mir selbst habe ich das erzählt. Eigentlich war ich niemand, der sich Dinge einbildete, und doch habe ich es geschafft, mir nach der Trennung von Milan einzubilden, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte.

Das Glück mit Milan war schon vergangen, als Lárus auf Island ankam. Erst, nachdem er sich alles von der Seele geredet hat, bekommt er wieder einen Blick für die Situation:

Sprecher: Merkwürdigerweise schien sie sich gar nichts notiert zu haben. Schließlich sagte sie: „So are you going to give me a cigarette then?“

Sie hatte nur eine „cigarette“, eine Zigarette von ihm gewollt, kein secret, kein Geheimnis. Vermutlich war dieses Missverständnis nur der äußere Anlass gewesen. Vielleicht hatte das schwarze, pastorenartige Gewand des Mädchens in Lárus eine alte Sehnsucht geweckt. Die Sehnsucht nach Wahrheit. Und so fing er an, zu erzählen.

Was bei Lárus geschehen ist, kommt dem Sinn der Adventszeit ganz nahe. Im Advent ist Zeit, sich vorzubereiten. Ganz äußerlich, mit weihnachtlichem Schmuck und Geschenken. Aber auch innerlich. Zum Beispiel, wenn ich mir eingestehe, wo ich mir und den anderen etwas vormache. Und wenn ich das dann auch ausspreche.

Das Weihnachtsfest kann dadurch nur gewinnen. Ohne Wahrhaftigkeit ist die Harmonie des Festes zerbrechlich. Deshalb die vielen Konflikte unter dem Tannenbaum. Da kann es helfen, sich ihnen schon vorher zu stellen. Die Gelegenheit dazu bietet sich manchmal ganz unverhofft, wie bei Lárus. Es kommt darauf an, sie zu ergreifen.

 

Audiobeitrag Hast du ein Geheimnis für mich?


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