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Das Loccumer Pendel
Die Messingkugel ist zehn Kilogramm schwer. Gleichmäßig pendelt sie an einem stabilen, zwanzig Meter langen Draht. Das Pendel ist befestigt an der
Decke einer über 800 Jahre alten Kirche: der Stiftskirche des Evangelischen Klosters in Loccum. Am schnellsten ist die Kugel, wenn sie den halben Weg zurückgelegt hat. Dann steigt ihre Bahn wieder an. Sie wird langsamer, bis sie für einen winzigen Moment stehen zu bleiben scheint. Alle Bewegung ist erstorben. Dann nimmt sie wieder Tempo auf, in die entgegengesetzte Richtung. Die Schwingung beginnt von neuem.
Heute ist so ein Tag, an dem die Zeit für einen Augenblick stillzustehen scheint. Ein Wendepunkt, an dem sich die Richtung wieder ändert. Heute ist der letzte Tag des Jahres: des christlichen Kirchenjahres. Morgen beginnt mit dem ersten Advent eine neue Zeit.
Die tristen Novemberwochen sind die Zeit der Gedenktage. Wer in diesem Jahr einen Menschen verloren hat, hat vielleicht sehr intensive Tage hinter sich. Erinnerungen sind wieder da: die letzten Tage im Krankenhaus, die Trauerfeier. Und danach häufig die Einsamkeit. Wenn die Nachbarschaft wieder zum Alltag übergeht, die eigene Trauer aber bleibt. An den Gedenktagen kam die Familie wieder zusammen. Man ging zum Grab, mit einem Gesteck oder einem Grablicht. Und tauschte Erinnerungen aus.
Am Ende dieser Trauertage legt sich bei mir manchmal ein Schatten auf die Seele. Der Tod scheint allgegenwärtig: In der entlaubten Natur, in der Länge der Nächte, und eben auch in den Gedanken. Das Leben scheint seine Energie zu verlieren wie das Pendel kurz vor dem Wendepunkt.
Beim Pendel geschieht der Umschlag ganz von selbst: Es nimmt wieder Bewegung auf. Gewinnt an Geschwindigkeit. Und zwar in die entgegengesetzte Richtung. Ein ganz gesetzmäßiger Vorgang, ohne dass eine Hand nachhelfen muss. Im Advent habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht. Wie von selbst gewinnt das Leben wieder an Energie: die Lichter in den Straßen und auf den Kränzen, die kalorienreichen Köstlichkeiten aus dem Ofen.
Auch dies geschieht wie von selbst, wie der Umschlag des Pendels. Alle Jahre wieder. Und je mehr der Advent an Tempo gewinnt, desto stärker spürt es auch meine Seele: Gott überlässt diese Welt nicht der Erstarrung. Sondern er belebt die Menschen von neuem, die von Trauer und Tod gefangen waren.
Das wirklich erstaunliche an dem Pendel in der Loccumer Kirche ist jedoch noch etwas anderes. Man könnte das ewige Schwingen ja auch sinnlos finden: Viel Bewegung, aber letztlich keine Veränderung. Immer bloß nach vorn und wieder zurück. Aber gerade das ist nicht der Fall. In Loccum wurde nämlich der berühmte Versuch des Foucaultschen Pendels nachgebaut.
Nach kurzer Zeit verändert das Pendel dabei seine Schwingungsrichtung. Es wandert kreisförmig über den Boden. Von selbst könnte es das nicht. Die einzig mögliche Erklärung ist, dass sich der Boden unter ihm zur Seite dreht. Mit diesem Versuch gelang Jean Foucault 1851 der erste sichtbare Beweis, dass sich die Erde tatsächlich dreht. Und gerade deshalb ist das Pendel ein hoffnungsvolles Bild für das Leben: In den hilfreichen Rhythmen des Lebens gibt es immer auch eine verborgene Veränderung. Man kommt ihr auf die Spur, wenn man mit ihr rechnet.
Das Loccumer Pendel
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