Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

09.11.05, 6.56 Uhr, Angelika Obert

Wenn sie gebraucht wurde, fühlte sie sich frei

Zu DDR-Zeiten war es so: Wenn es zwischen Potsdam und Teltow auf irgendeinem Bau an Nägeln fehlte, dann riefen die Handwerker bei den Diakonissen in Teltow an.

Dann setzte sich Schwester Karin in den roten Wartburg und sauste los. Was für die Genossen vom Bau schwierig war, kriegte die große Frau mit der Schwesternhaube mühelos hin: Unter dem Ladentisch wurden Nägel hervorgezaubert. Die Diakonissen hatten einen guten Ruf in der DDR. Das waren Vertrauenspersonen.
Karin kannte man auf den Straßen rund um Teltow als die Schwester ohne Kniescheibe. Bei ihr blieb das Gaspedal immer unten. Sie liebte das Autofahren, denn da war sie endlich frei.

Sonst fühlte sie sich ja immer eingesperrt. Sie war es auch, von Geburt an: erst im Kinderheim, dann bei der Pflegemutter. Mit 18 machte sie sich davon zu den Diakonissen nach Teltow. Dort wollte sie Krankenschwester lernen. Die Diakonissen waren gut zu ihr. Kein Wunder, dass sich die junge Karin bald berufen fühlte, auch eine zu werden. Aber das bedeutete für das ungebärdige Mädchen: 8 Jahre im Probesaal zu schlafen unter der strengen Zucht einer Probemeisterin. Und keine Ausbildung als Krankenschwester, sondern Dienst als Sekretärin bei Frau Oberin.

Diakonissen mussten gehorchen und die Arbeit tun, die gerade gebraucht wurde. Karin kam hinter die Schreibmaschine, obwohl sie das enge Sitzen hasste. Zum Trost durfte sie den Wartburg fahren. In Teltow hatte jede Schwester mehrere Ämter – die Arbeit ging von früh um 6 bis spät in den Abend.

Die Mauer wurde direkt vor dem Mutterhaus gebaut. Es gab keine Haltestelle mehr und keinen direkten Weg nach Berlin. Dafür Wachhunde, die das ganze Wochenende über bellten, wenn die Fütterung ausblieb. Das war keine leichte Zeit, aber die Schwestern wurden gebraucht. Jetzt erst Recht. Viele junge Frauen machten in Teltow ihre Ausbildung, viele Kranke fanden hier Hilfe – trotz der Abgeschiedenheit war immer Leben im Gelände. Und darum blieb Karin bei der Stange, obwohl es ihr oft zu eng wurde. Sie hatte ja immer noch den roten Wartburg.

Als dann die Wende kam, zogen die Schwestern zur geöffneten Grenze und brachten den Wachposten selbstgebackene Plätzchen mit. Der Posaunenchor baute sich am Grenzübergang auf und blies Choräle. Karin war dabei. Eine unvergessliche Zeit.

Ein Jahr später kam ein Verwaltungsdirektor aus dem Westen nach Teltow. Das Amt der Autoschwester wurde abgeschafft und der rote Wartburg auch. Schwester Karin musste jetzt den ganzen Tag hinter der Schreibmaschine sitzen. Bald durfte sie auch nicht mehr die Plakate für das Jahresfest malen. Der Auftrag ging jetzt an ein Grafikbüro. Die jungen Mädchen machten ihre Ausbildung nun anderswo – kein Gegicker mehr in Teltow, dafür viel Baulärm, denn alle Häuser wurden schön saniert.

Jetzt ist Karin wie alle ihre Mitschwestern im Ruhestand. Sie wohnt in einem altersgerechten Appartement, sehr schick – aber sie findet, dass die Welt für sie eher enger geworden ist. „Wir sitzen hier im goldenen Käfig“, sagt sie, „früher haben wir den Laden getragen. Jetzt sind wir raus aus dem Dings.“

Wirklich frei hat sich Karin immer nur gefühlt, wenn sie mit dem Wartburg unterwegs war – Nägel holen und so was. Wer kann ihr das verdenken? Wirklich frei fühlen wir uns alle – im Westen wie im Osten – immer nur, wenn wir gebraucht und ernst genommen werden und etwas tun können, was uns innerlich entspricht. Für die meisten von uns – im Osten wie im Westen – sind die Zeiten solcher Freiheit eher  selten. Das sollten wir bedenken, wenn wir einander begegnen:  wie viel Sehnsucht in jedem Leben unerfüllt bleibt – hier wie dort.

Audiobeitrag Wenn sie gebraucht wurde, fühlte sie sich frei


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