Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

12.11.05, 6.56 Uhr, Angelika Obert

Gott will, dass ich das Leben geniesse

„Beim jüngsten Gericht wird der Mensch Rechenschaft ablegen müssen über all die guten Dinge, die er hätte genießen können und nicht genossen hat.“

Ein Satz aus dem Talmud, der heiligen Lehre der Juden. Ein schöner Satz: den sollte man sich über den Spiegel hängen – gerade im November, wenn die Laune in den Keller sinkt.

Wenn man in den Kirchen anfängt, an so ernste Dinge wie Tod und Gericht zu denken, dann ist es angebracht, das Naheliegende nicht zu vergessen: Der heutige Tag will – um Gottes willen - genossen werden. Denn der Gott, der mich geschaffen hat, wird am Ende wohl wissen wollen, was ich mit meiner Lebendigkeit angefangen habe. Was ist geworden aus dem Besten, das er mir mitgegeben hat: aus meiner Genussfähigkeit? Gott wird verzeihen können, dass ich oft nicht tat, was ich hätte tun sollen. Aber dass ich das Naheliegende versäumte: das Genießen der guten Dinge – da wird er fragen: Warum?

Und noch jemand wird sich das fragen, wenn es ans Sterben geht. Ich selbst. Warum nur habe ich nicht genossen, was zu genießen war?

Es ist ja keine Geldfrage. Genuss fängt nicht erst im Wellness-Hotel an. Alles lässt sich genießen, was der Haut wohl tut, was Auge und Ohr erfreut, das Herz wärmt, den Geist anregt – und natürlich – was dem Gaumen schmeckt. Alles lässt sich genießen. Die Bettwärme am Morgen, das Räkeln, sogar das Zähneputzen. Ich muss nur bei der Sache sein und spüren, was mich da gerade erreicht. Genießen ist zuerst eine Frage der Aufmerksamkeit. Und die fehlt mir viel zu oft. Denn ich habe ja Pflichten, denen ich hinterher renne und Sorgen, die mir im Kopf herumkreisen – und bin in Gedanken meistens irgendwo anders , so dass die guten Dinge, die ich genießen könnte, nur am Rand an mir vorbeirauschen. Es wird also am Ende gewiss so sein, dass ich Vieles, was ich hätte genießen können, nicht genossen habe.

Ich sehe schon, wie Gott die Stirn runzeln wird, wenn ich ihm am jüngsten Tag Rechenschaft darüber ablegen muss. Ich werde ihm viele Genüsse schuldig bleiben.
Nun ist Buße angesagt: Ich muss ihm ja nicht alles schuldig bleiben. Was würde ich also antworten, wenn Gott mich fragte: Was hast du in der vergangenen Woche wirklich genossen? Und was antworte ich, wenn er mich fragt: Welche guten Dinge wirst du heute genießen?

Ich werde mir nicht zu viel vornehmen – vielleicht nur eine einzige Sache: das Händewaschen zum Beispiel. – Wenn ich mir nur einmal wirklich mit Genuss die Hände wasche – dann bin ich für diese zwei Minuten schon ein anderer Mensch. Ich werde mal versuchen, mir dabei das jüngste Gericht vorzustellen, mich vor dem Ewigen verbeugen und denken: „Mein Gott, wie gut fühlt sich das Wasser an, wenn es durch meine Hände rinnt.“ Sich Rechenschaft abzulegen über Genüsse – das ist im Grunde doch gar nichts anderes als Gott zu loben.

Der Dichter Bert Brecht hat das mal getan in einem Gedicht, das „Vergnügungen“ heißt. Darin zählt er folgende Genüsse auf:

„Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Reisen
Singen
Freundlich sein. “

So ein Gedicht – meine Genüsse betreffend – werde ich auch mal machen. Und vielleicht haben Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, ja auch Lust dazu. Ein Samstag im November eignet sich dafür. Jedenfalls gilt es, das nicht zu vergessen: Beim jüngsten Gericht wird der Mensch Rechenschaft ablegen müssen über all die guten Dinge, die er hätte genießen können und nicht genossen hat.“

 

Audiobeitrag Gott will, dass ich das Leben geniesse


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