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St. Martin in der U-Bahn
Eines Tages, als Martin nichts außer Waffen und einem einfachen Soldatenmantel bei sich trug, begegnete er mitten im Winter am Stadttor einem nackten Armen.
Dieser flehte die Vorbeigehenden um Erbarmen an. Doch alle liefen an dem Elenden vorüber. Da erkannte Martin, von Gott erfüllt, dass der Arme, dem die andern keine Barmherzigkeit schenkten, für ihn da sei.
So beginnt, in wohl gesetzten Worten, die Legende, die nun wirklich jedes Kind kennt: Vom geteilten Mantel, mit dem eine große Heiligenkarriere ihren Anfang nahm. Was man mir in Kinderjahren nie erzählt hat: Dass Martin damals selber noch ein halbes Kind war, etwa 16 Jahre alt.
Mehr als 1600 Jahre sind seitdem vergangen. Wenn ich aus dem Haus gehe, trage ich weder Schwert noch Umhang und ich begegne auch keinen nackten Armen. Wohl aber passiert es nicht selten, dass ich in der Stadt unterwegs einige Male von jungen Leuten um ein bisschen Kleingeld angefleht werde. Das habe ich meistens auch dabei. Aber ich rücke es nicht immer heraus. Denn ich glaube nicht so recht, dass mein Erbarmen wirklich nötig ist. Könnte die reichlich verklebt wirkende junge Frau, die mich im Stehcafé anschnorrt, nicht mal zu einer Beratungsstelle gehen? Und warum kümmert sich der Punk, der in der Einkaufspassage bettelt, nicht um einen Ein-Euro-Job? Und selbst die Musikanten aus Osteuropa kann ich denn sicher sein, dass mein Euro wirklich der Babuschka in Kasan hilft, über den Winter zu kommen? Vielleicht muss er an irgendwelche Schleuser abgeführt werden.
Sicher, die Zeiten sind härter geworden, aber irgendwie ist das doch immer noch zweifelhaft, ob es mit dem Betteln in unsern Breitengraden auch seine Richtigkeit hat.
So fühle ich mich auch nicht in der Pflicht, als wieder mal ein blasser Jüngling mit der Obdachlosenzeitung durch die U-Bahn zieht. Ich stecke meine Nase nur etwas energischer in mein Buch. Kriege aber trotzdem mit, was die beiden Schüler mir gegenüber so treiben. Jetzt zieht der eine generös einen Euro aus der Jeanstasche und drückt sie dem Zeitungsverkäufer in die Hand. Ich staune. Sein Freund staunt auch: Warum bist du denn so sozial? Weil ich das absurd finde, sagt der Junge, dass das Soziale bei uns immer nur anonym ist. Auf irgendwelchen Ämtern und so. Das Soziale kann doch nicht anonym sein. Eigentlich müsste doch jeder Mensch verpflichtet werden, für einen andern die Verantwortung zu übernehmen.
Jetzt bin ich aber platt. Da sitzt ein kleiner Sankt Martin. Niemand wird ihn je heilig sprechen. Der gespendete Euro ist ja auch nicht so eine große Heldentat. Das war der halbierte Mantel aber seinerzeit wohl auch nicht. Martins Heldentat war, dass er die Armut der Armen nicht so selbstverständlich hinnahm, wie das zu seiner Zeit üblich war. Und der Junge in der U-Bahn ist für mich ein Held, weil er eine Antenne hat für das, was wir heute viel zu selbstverständlich hinnehmen: Dass die Barmherzigkeit hauptsächlich anonym verwaltet wird. Der Junge hat ja Recht.
Soziale Einrichtungen sind wichtig. Aber wenn sie dazu führen, dass ich mich taub stelle, wenn ich persönlich angesprochen werde, dann läuft etwas falsch. Es geht bei der Barmherzigkeit ja nicht nur darum, Not zu lindern. Es geht auch um meine Bereitschaft, mich in Beziehung zu setzen zu den Menschen, die so ganz anonym um mich herumwieseln. Ein bisschen bin ich ja mit der Nase in meinem Buch oder eingehüllt in meine Selbstgespräche auch zu Fuß immer wie auf einem hohen Ross, weit weg von den andern. Und wenn dann jemand kommt und etwas von mir will, dann könnte ich das auch als eine Chance begreifen: Jetzt in diesem Augenblick soll ich runterkommen. Jetzt darf ich etwas geben.
In Asien, habe ich gelesen, ist das so: Da bedanken sich die Gebenden bei den Bikkhus, den buddhistischen Bettlern: dass sie ihnen etwas geben dürfen. Das hat der Heilige Martin übrigens auch getan: Er war dankbar für seinen Bettler, der ihn zu einem andern Menschen gemacht hat. Und ich bin dankbar für den Jungen in der U-Bahn, der so voller Überzeugung erklärte: Das Soziale kann doch nicht nur anonym sein!
St. Martin in der U-Bahn
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