Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

07.11.05, 7.50 Uhr, Angelika Obert

Wer ist hier eigentlich asozial?

Früher musste er um Sieben auf Arbeit sein. Jetzt steht er in der Schlange vor dem Arbeitsamt. Neuerdings heißt es „Jobcenter“, aber die Schlange ist davon nicht

kürzer geworden. Früher hat er leise geflucht, wenn am Montag morgen die Maloche wieder losging. Jetzt flucht er laut: Hundert Schweine, die sich um einen Trog drängen, wo nichts drin ist! Bis um 8 werden es zweihundert. Dann öffnen sich die Türen, jetzt drängeln wirklich alle. Er kriegt die Nummer 73. Mindestens drei Stunden Zeit, die gelben Kacheln auf dem Flur anzustarren. Die Luft ist stickig hier – es riecht nach Schweiß. Den Schweiß der Arbeitslosen, diesen Warteschweiß, den müssten sie mal in der Nase haben, wenn sie abends im Fernsehen von den sogenannten Reformen reden.

 Plingpling macht die Nummertafel – plingpling – das ist die einzige Unterhaltung hier, die einzige Hoffnung. Warum gibt’s in diesen Fluren eigentlich kein Animationsprogramm wie für die Leute, die vor den großen Ausstellungen Schlange stehen? Ein bisschen Musik und Kaffee? Weil du hier eben nix wert bist, kein Kunde bist, kein Kulturmensch. Bloß einer, der dem Staat auf der Tasche liegt. Nicht vermittelbar.

Sozial schwach – nennen sie das im Fernsehen immer. Jemand, den man auffangen muss. Der aber auch mal begreifen muss, dass Zettelausteilen zumutbare Arbeit ist. Dabei ist das doch bloß Umweltverschmutzung. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ich bin ein sozial Schwacher. Ein Patient. Deswegen sitze ich hier und starre die Kacheln an und lausche auf das Plingpling.

Noch zehn Nummern, dann ist er dran. Er hätte jetzt wirklich Lust, sich was zu kaufen – ein Computerspiel und den Rest des Tages richtig abzuballern. Aber das wird er sich verkneifen – sozial Schwache müssen sich zusammennehmen.
Und nun hat er’s hinter sich. War dran – und ist wieder draußen. War wieder nix drin für ihn.

Auf der Straße tobt jetzt das Leben. Lauter Leute, die  wissen, was sie zu tun haben, die Geld haben zum Ausgeben. Dicke Autos fahren vorbei. Nur nicht neidisch sein, sagen sie im Fernsehen immer. Wer viel Verantwortung hat, muss auch viel verdienen. Solche Leute mit supermäßig viel Verantwortung haben beschlossen, dass es für ihn nix mehr zu tun gibt. Kein kleines bisschen Verantwortung für ihn. Dass er sozial schwach ist.

Auf die Kneipe hat er jetzt auch keine Lust. Er holt sich ein Sixpack und geht damit nach Hause. Im Treppenhaus herrscht Radau. Er übersieht die Lage: Die Nachbarin und ihre kleine Tochter waren bei Ikea. Jetzt versuchen sie, die Regalbretter nach oben zu schleppen – mit wenig Geschick. Er stellt sein Sixpack ab und packt zu. Die Nachbarin macht nicht den Eindruck, als sei Möbelbauen ihre Lieblingsbeschäftigung. „Ich kann Ihnen das aufstellen“, sagt er. Bei ihm geht das  ganz schnell. Die kleine Tochter schaut zu. „Du bist aber geschickt!“ sagt sie bewundernd.

Soll das nun ein Trost sein? Dass die Kleine ihn  bewundert? Dass er stark ist in ihren Augen? Jedenfalls ist es jetzt egal, was sie im Fernsehen immer sagen. Er hat sich nützlich gemacht. Die Nachbarin freut sich. Der Tag ist nicht verloren. Und vielleicht sind diese  freundlichen Momente, wo man sich gegenseitig hilft – vielleicht sind die  überhaupt das wirkliche Leben. Man könnte es so sehen.

Man könnte dran glauben, dass Gott hier ist – und nicht bei den Verantwortungsleuten. Es ist allerdings ganz schön schwer, das zu glauben.

Dafür muss man wirklich stark sein. Sozial.

Audiobeitrag Wer ist hier eigentlich asozial?


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