Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

31.10.05, 19.05 Uhr, Präses Nikolaus Schneider aus Paris

„Wie werde ich gerecht vor Gott?“

Diese Frage, liebe Gemeinde, die Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott hatte Martin Luther viele Jahre seines Lebens gequält. Denn sie war unmittelbar

verbunden mit der Aussicht auf ewige Seligkeit, auf das ewige Leben.

Am 31. Oktober 1517 war es soweit. Martin Luther hatte seinen inneren Klärungsprozess abgeschlossen, seine Überlegungen in 95 Thesen gefasst und sie in Wittenberg veröffentlicht..
Wie also muss ich leben und was muss ich glauben, damit ich nach meinem Tod Fegefeuerstrafen und Höllenqualen entgehe?

Was muss ich tun, damit Gott mir  am Jüngsten Tag gnädig ist?

Wie kann ich mir in meinem irdischen Leben die Gerechtigkeit vor Gott und damit die ewige Seeligkeit im Paradies verdienen?

Das, liebe Gemeinde, waren brennende Fragen, mit denen sich nicht nur Martin Luther herumquälte. Es waren die Fragen seiner Zeit und viele Menschen wurden von ihnen umgetrieben. Das ist verständlich, denn damals war die vorfindliche Welt ganz selbstverständlich nicht die einzige Realität. Himmel, Hölle, Paradies und Verdammnis waren Realitäten, mit denen ganz fest gerechnet wurde.

Kann ich mit meinem Leben vor Gottes Gericht bestehen? Habe ich genug gebeichtet, genug bereut, genug gebüßt, mich genug gegeißelt, genug bezahlt, genug Gutes getan?
Ist Gottes Vergebung für mich und sogar für meine verstorbenen Lieben käuflich – durch den Kauf von Ablassbriefen etwa?
Dieser skandalöse Ablasshandel, der die Ängste der Menschen ausbeutete, war der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte.

Martin Luther protestierte öffentlich und forderte die Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern – ihre Reformation. Und er tat dies ausschließlich mit theologischen Argumenten. Die Weigerung Roms auch nur darüber nachzudenken und der Rückgriff auf weltliche Machtmittel, um das Feuer des neuen Denkens und Glaubens auszutreten, führten zu der bis heute andauernden Kirchenspaltung. Sie sind Grund und Anlass unseres heutigen Gottesdienstes.

Der Predigttext für den heutigen Tag ist deshalb auch dem 3. Kapitel des Römerbriefes entnommen, dem Kapitel, das für Martin Luther zur Grundlage seiner reformatorischen Rechtfertigungslehre wurde:

Sprecher:
„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird
  ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“     ( Röm.3, 28)

Gerechtigkeit vor Gott- das ist nicht der ungewisse Gegenwert für menschliches Bemühen und menschliche Leistungen!
Gerechtigkeit vor Gott- das ist das freie Geschenk Gottes an alle, die an ihn glauben!

Das war und ist die befreiende und lebensfreundliche Botschaft der Heiligen Schrift, des Apostels Paulus, die Martin Luther neu entdeckte.
Das war eine Frohe Botschaft, ein „Evangelium“, das aufatmen ließ und  die Menschen des Mittelalters von ihrer Höllenangst befreite.
Der sündige Mensch wird von Gott gerechtfertigt. Trotz seiner Sünde und Unvollkommenheit findet der Mensch Anerkennung, Liebe, Vergebung und Gnade bei Gott !
Die Gerechtigkeit Gottes ist ein aktives Tun Gottes: Sie macht den Menschen gerecht für sein gegenwärtiges Leben auf dieser Erde und für sein zukünftiges Leben in Gottes Reich.
Die Gerechtigkeit ist auf der Seite des Menschen zunächst ein passives Empfangen: Sie wird ihm von Gott geschenkt ohne „Verdienst und Würdigkeit“ des menschlichen Verhaltens und Handelns, allein im Glauben!

„Glaube“ meint in diesem Zusammenhang nicht das „Für-wahr-halten“ von dogmatischen Sätzen, sondern:
Glaube ist, wenn sich der Mensch vertrauensvoll Gott zuwendet und sich auf eine lebendige Beziehung zu Gott einlässt. Für uns, die wir nicht zu dem Gottesvolk Israel gehören, ist dieser Glaube, ist diese Gottesbeziehung gegründet in der - Gerechtigkeit Gottes, die uns in Jesus Christus offenbart wurde.
So erläutert Paulus in dem 3. Kapitel seines Römerbriefes:


Sprecher:
Die Gerechtigkeit Gottes, die dem Gottesvolk Israel durch die Tora und durch die Propheten bezeugt wurde und wird, ist für uns „Heiden“ im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi offenbar geworden. Es ist der eine Gott, der die Juden gerecht macht aus dem Glauben an das Wort Gottes in der Tora, in den Prophetenbüchern und in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser Gott macht uns Heidenvölker gerecht durch den Glauben an das lebendige Gotteswort, durch Jesus Christus!  ( vgl. Röm 3, 21 und 30 )

Aber auch für uns Christen macht der Glaube an Jesus Christus das Gesetzbuch Gottes, die Tora, nicht überflüssig. Paulus will die Tora nicht aufheben, sondern aufrichten! (Röm.3, 31)

Gott liebt uns, damit wir fähig werden, ihn und unsere Mitmenschen zu lieben!
Gott schenkt uns seinen Geist, damit wir glauben lernen und seiner Kraft in unserem Alltag vertrauen!
Gott macht uns gerecht, damit wir seine Gerechtigkeit bezeugen und in unserem Alltag das Gerechte tun!
Jesus Christus hat uns Gottes Gerechtigkeit offenbart, damit wir Gottes Willen und Gottes Gebote in unserem alltäglichen Leben Raum geben!

Sprecher:
„Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe- und damit in Gottes Gerechtigkeit! – wie ich auch meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe!“

Das sagt Jesus seinen Jüngern im Johannesevangelium zu ( Joh. 15, 10 )


So also hält Martin Luther mit Paulus dafür, dass wir Menschen gerecht werden
allein aus Glauben, allein durch Christus. Und er schärft mit Paulus ein, dass wir die uns von Gott geschenkte Gerechtigkeit auch bezeugen und leben, indem wir Gottes Gesetz achten und das Gerechte tun!


Musik


Was aber bedeutet diese im Mittelalter so befreiende und lebensfreundliche Botschaft  uns heute, fast 500 Jahre nach Luthers Kirchenreformation?

Unser Weltbild ist ganz anders geworden, das Empfinden der Menschen unserer Zeit ebenfalls.
Wir lassen uns nicht mehr ängstigen mitJüngstem Gericht, Fegefeuer und Höllenqualen.
Wir kümmern uns wenig um das ewige Leben im Jenseits!
Wir wollen ein glückliches, erfolgreiches und gelingendes Leben auf dieser Erde!
Wir fragen weniger nach Gottes Akzeptanz und Rechtfertigung unseres Lebens, als vielmehr nach der Bewunderung und Liebe unserer Mitmenschen.
Für uns gibt es angesichts der kleinen und großen Katastrophen unseres Lebens und unserer Welt wichtigere Fragen als die nach unserem Seelenheil!
Die Frage nach unserem ewigen Seelenheil bestimmt unser alltägliches Denken und Handeln nur noch wenig.

Hat sich für uns heute also die Frage nach unserer Rechtfertigung vor Gott, hat sich die Botschaft unseres Predigttextes erledigt?

Nein, weil es dabei ja nicht nur um die Frage nach dem ewigen Leben des einzelnen Menschen im Jenseits geht! Hatte dieser Aspekt im Mittelalter das Schwergewicht, so ist für uns der andere Aspekt, nämlich unser gerechtes Leben auf der Erde, wichtiger geworden.
Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach unserer Rechtfertigung vor Gott umschließt beides, das Diesseits und das Jenseits, also unsere Lebens- und Sterbenserfahrungen und unsere Auferstehungshoffnungen!

Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach unserer Rechtfertigung vor Gott, liebe Gemeinde, umschließt unser Fragen nach Sinn, Zweck und Ziel unseres Lebens und wie wir  mit anderen Menschen zusammenleben. 
Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach unserer Rechtfertigung vor Gott umschließt die Beziehung Gottes zu den Menschen und die Beziehung der Menschen zu Gott.
Diese Frage bestimmt deshalb den Auftrag, das Reden und das Handeln der Kirchen! Und zwar aller!

Deshalb war und ist die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott von lebensentscheidender und lebensgestaltender Bedeutung nicht nur für theologische Spezialisten und Kirchenfunktionäre, sondern für jeden einzelnen Menschen und für jede menschliche Gemeinschaft!

Wir heute haben andere Ängste und leben in anderen Zwängen  als die der Menschen im Mittelalter. So brauchen wir heutigen Christinnen und Christen in der Regel nicht die Erlösung und Befreiung von einem übersteigerten Bemühen, uns durch gute Werke, asketische Bußübungen oder den Kauf von Ablassbriefen die Gerechtigkeit vor Gott zu verdienen oder zu erkaufen.

Aber brauchen wir nicht Befreiung und Erlösung von übersteigerten Erwartungen an uns selbst und unsere Lebenspartner?
Brauchen wir nicht Erlösung und Befreiung von Lebenslügen und menschlichen Allmachtsphantasien?
Brauchen wir nicht Erlösung und Befreiung von Todesverdrängung und Gegenwartsüberhöhung?

Rechtfertigung „allein durch Glauben“ heißt doch auch:
Im Glauben an die Liebe und Gegenwart Gottes bekommen wir unsere unantastbare Menschenwürde geschenkt!

Gott hat uns Menschenwürde verliehen – nicht, weil wir besonders fromm, besonders klug oder besonders schön sind. Unsere Menschenwürde ist nicht abhängig von einer intakten Gesundheit, besonderer Leistungsfähigkeit oder einer ausgewogenen Persönlichkeit. Er schenkt uns unsere Gerechtigkeit und unsere menschliche Würde  – ohne unser Verdienst und unsere Würdigkeit!  

Gott hat uns in und durch Jesus Christus offenbart, dass er uns liebt und begleitet in allem, was uns in diesem Leben widerfährt. Im Glauben an Gott bewegt und trägt uns die Kraft Gottes in unseren guten und in unseren schlechten Tagen, in unseren Erfolgsgeschichten und in unserem Versagen, in und über unseren Tod hinaus!
Und dieser Glaube, dieses Vertrauen in die uns unverdient geschenkte Liebe und Nähe Gottes motiviert und befähigt uns, Gottes Gerechtigkeit in dieser Welt zu bezeugen und das Gerechte zu tun!

Wie werde und wie lebe ich gerecht vor Gott?
Wie gelingt mir ein sinnerfülltes Leben auf dieser Erde?

„Im Beten und Tun des Gerechten!“ antwortete der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer im vergangenen Jahrhundert und fasst damit die Botschaft des Paulus und die Erkenntnis Martin Luthers zusammen:

Im Vertrauen und in der lebendigen Beziehung zu Gott – im Glauben und Beten – schenkt Gott uns unsere Gerechtigkeit. Und diese uns von Gott geschenkte Gerechtigkeit treibt uns an und gibt uns die Kraft, nach Gottes Gesetz und Willen zu leben, sie hilft uns auch, das Gerechte zu tun!

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben!“, auf dass er nach dem Gesetz Gottes lebe und das Gerechte tue -  sich selbst und der Welt zu Gute!

Amen.

 


 


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