Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

25.10.05, 05-06 Uhr, Roland Hosselmann

Blind

Ich hatte meiner Freundin Maike beim Umzug geholfen. Und die hatte natürlich wie immer alles super organisiert . Nur das Werkzeug. Das hatte sie irgendwo ganz

zuunterst in die Umzugskartons gestopft.„Und wie soll ich nun deine Regale zusammenbauen ohne Schraubenzieher?“ „Klingel doch mal bei den Nachbarn“. 

Ich klingele also bei der Nachbarin. Eine Frau Mitte Dreißig bittet mich herein und führt mich in ihr Wohnzimmer. Als ich hinter ihr her gehe, merke ich, irgendetwas ist  anders an ihr. Dann verstehe ich: Sie ist blind. Total zielsicher findet sie die Schraubenzieher. Als wir die am Abend zurückbringen, lädt sie uns auf  einen Kaffee ein. Auf gute Nachbarschaft, wie sie sagt. Maike rutscht die ganze Zeit auf ihrem Stuhl hin und her. Und man sieht ihr die Frage förmlich an. „Wieso ist  die  Frau blind?“

Die Frau merkt das und dann  erzählt sie. Sie hatte Tabletten verschrieben bekommen. Zehn hat sie genommen. Und bei der Elften ist sie blind geworden, von einem Moment auf den  nächsten. Medikamentenunverträglichkeit!

Ich habe sie gefragt, wie sie denn damit fertig geworden ist.
Am Anfang, sagt sie, war das der totale Schock .  Ein Jahr hat sich alles  nur um die Erblindung gedreht. Und als dann klar war, dass es keine Heilung mehr  für sie gibt, hat sie sich gefragt,  was sie denn jetzt noch kann. Sie kann noch hören, sie kann noch riechen, sie kann noch schmecken, sie kann noch fühlen.

Ich habe mir vorgenommen: Wenn ich mal in eine Situation komme, wo mir Lebenswege verstellt sind. Möchte ich an diese Frau denken. Und nicht nur auf das gucken, was ich nicht mehr kann, sondern auf das gucken, was ich noch kann.

Sprecherin: Christiane Schulte-Birgden

Audiobeitrag Blind


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