Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

02.10.05, 8.05 Uhr, Traugott Vitz

ErnteDank

„Das können wir nie wieder gut machen” – diesen Satz meiner Mutter habe ich noch im Ohr.Sie war gerührt, erfreut, überrascht – aber gleichzeitig auch ein bisschen peinlich

berührt und verlegen. Eine Nachbarin hatte mitbekommen, dass unsere Oma an diesem Tag aus dem Krankenhaus kam, dass meine Mutter bis über die Ohren in Arbeit steckte, und hatte einfach für uns mit gekocht. Und nun stand meine Mutter da mit einem ganz unerwarteten Geschenk und wusste nicht weiter. Einfach nur „Danke” sagen? Natürlich hat sie sich bedankt. Aber das schien ihr zu wenig. Als wäre da etwas aus dem Gleichgewicht geraten, was man so nicht stehen lassen durfte.

Danken kann schwierig sein. Danken kann die natürlichste Sache von der Welt sein. Danken-Müssen kann eine unerträgliche Last sein. Danken-Können kann der Schlüssel sein, der mir den Zugang zu einem anderen Menschen öffnet. Das alles ist möglich. Aber wann ist es was? Vielleicht haben Sie Lust, darüber ein bisschen mit mir nachzudenken – heute, am Erntedankfest. Ich heiße Traugott Vitz und bin Gemeindepfarrer in Hilden bei Düsseldorf.

Danken kann eine bloße Formalität sein. „Reichen Sie mir bitte mal das Salz?” „Danke schön.”
Das lernen wir schon als Kind. Wer nicht „Danke” sagt, ist ein ungehobelter Mensch. Über kurz oder lang wird man keine Lust mehr haben, ihm einen kleinen Gefallen zu tun. So weit, so gut. Das Problem meiner Mutter, von dem ich eben erzählt habe, bestand aber darin, dass es eben keine kleine Gefälligkeit war. Da war jemand aufmerksam und liebevoll genug, sehr persönlich zu helfen, noch bevor wir darum gebeten hatten. Und da kommt dann auch so etwas wie Stolz ins Spiel:

Wir sind nicht gern Hilfeempfänger, selbst wenn wir’s im Moment gut gebrauchen können oder sogar nötig haben. Es beschädigt unser Selbstwertgefühl. Es bringt die Beziehung ins Kippen: Plötzlich sind wir nicht mehr auf Augenhöhe mit dem anderen, sondern irgendwie „unten”, und der andere ist „oben”. Das mögen wir nicht. Das muss ausgeglichen werden. Und wenn uns dazu nichts einfällt oder wenn es überhaupt nicht geht, dann fällt so ein Satz: „Das können wir nie wieder gut machen”.

Wieder gut machen – den Ausdruck kennen wir sonst nur, wenn es darum geht, einen Schaden zu ersetzen oder Unrecht zu heilen. Sprache ist verräterisch. Sie legt den Finger darauf, dass wir es unter bestimmten Bedingungen als schädlich oder unrecht ansehen, ein großes Geschenk zu bekommen. Wenn wir jemandem zu Dank verpflichtet sind, dann wird das zur Last – es belastet unsere Beziehung zu ihm. Manchmal sogar katastrophal. Davon erzähle ich gleich mehr.

[Musik]

Autor:
Zu den Büchern, die ich am meisten liebe, gehören die Kriminalromane der englischen Schriftstellerin Dorothy Sayers. In ihren Romanen ist Lord Peter Wimsey der Detektiv, der die Fälle löst, oft zusammen mit der Kriminalschriftstellerin Harriet Vane. Die Beziehung dieser beiden steht unter einem schlechten Stern, und das liegt an der Dankbarkeit. In einem der Romane steht Harriet unter Mordanklage vor Gericht, und sie wäre beinahe sicher zum Tod am Galgen verurteilt worden, wenn Lord Peter nicht den wirklichen Mörder gefunden und überführt hätte. Während dieser Geschichte verliebt sich Lord Peter in Harriet und macht ihr einen Heiratsantrag. Harriet sagt Nein. Und sie wiederholt ihre Ablehnung während der nächsten fünf Jahre mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der Lord Peter seine Anträge wiederholt.

Immer wieder in den folgenden Büchern lösen sie einen Fall zusammen, und immer schwebt da zwischen ihnen ein Schatten. Sie ist ihm dankbar dafür, dass er ihr das Leben gerettet hat, aber zugleich weiß sie ganz genau, dass sie ihn auf gar keinen Fall aus Dankbarkeit heiraten darf. Sie will nicht vor dem Drängen eines Überlegenen kapitulieren, sondern, wenn überhaupt, einem ihr Gleichgestellten die Hand reichen.
Lord Peter versteht das. Er sagt:

Sprecher:
„Hören Sie, Harriet. Ich verstehe Sie ja. Ich weiß, dass Sie weder geben noch nehmen möchten. Sie haben versucht, die Gebende zu sein, und mussten erkennen, dass der Geber immer der Dumme ist. Und Sie wollen nicht die Nehmende sein, weil das sehr schwer ist, und weil Sie wissen, dass der Nehmer am Ende immer den Geber hasst. Sie wollen nie mehr ihr Glück von jemand anderem abhängig machen. Dank! Soll ich denn nie mehr loskommen von diesem ekelhaften Wort? Ich will keinen Dank. Ich will nichts als ganz normale Ehrlichkeit.”

Autor:
Es dauert lange, bis Harriet so weit ist. Als sie endlich Ja sagen kann, tut sie es, weil sie ihren Selbstwert wiedergefunden hat. Jetzt kann sie danken, ohne sich unterlegen zu fühlen, aus freien Stücken. Und jetzt kann sie auch sich selbst eingestehen, dass sie Lord Peter liebt, und seinen Antrag annehmen. Den letzten Anstoß gab ein gemeinsamer Konzertbesuch, und was Harriet da in einem Doppelkonzert für zwei Violinen hörte, wurde der Schlüssel zum Verständnis ihrer künftigen Beziehung: Sie hörte „…jede Stimme einzeln und doch gleichzeitig, jede selbständig und gleichberechtigt, jede für sich und doch untrennbar, über- und unter- und durcheinandergreifend…

Autor:
Zum Dank verpflichtet sein – darin steckt Unfreiheit; und das kann das Verhältnis zwischen dem Gebenden und dem Nehmenden kaputt machen. Aber genauso fatal wirkt es sich aus, wenn einer alles als selbstverständlich hinnimmt und kein Wort des Dankes findet.

Manche Chefs sind so. Sie fordern von ihren Mitarbeitern viel und danken nie. Mit der pünktlichen Gehaltszahlung, so meinen sie, hätten sie ihren Teil getan. Es gibt auch andere Chefs. Die haben ein waches Auge dafür, wann einer mehr tut, als er muss. Sie bemerken es, und dann sagen sie dem Betreffenden auch, dass sie es bemerkt haben. Das wirkt. Wer sich geschätzt fühlen darf, wird auch das nächste Mal bereit sein, ein bisschen mehr zu tun.
Das Danken zu vergessen – das kann sich eigentlich nur der leisten, der selber keine Fehler macht, nie auf die Hilfe eines anderen angewiesen ist Und wer ist das schon.

Wer könnte von sich selber sagen: „Ich habe niemanden nötig. Alle meine Erfolge verdanke ich nur mir selber.” Das gibt’s einfach nicht, denn niemand ist eine Insel. So gesehen, ist es auch ein Dienst an mir selber, wenn ich das Danken nicht vergesse. Es schützt mich vor Einbildung. Es sichert mir den guten Willen meiner Mitmenschen. Irgendwann habe ich einen nötig, der weitermacht, wenn ich müde bin, der in Ordnung bringt, was ich verschusselt habe, der mir mit seinen guten Ideen über den toten Punkt hilft. Dann kann ich froh sein, wenn es solche Menschen in meiner Umgebung gibt.

[Musik]

Dankbar zu sein – wenn's geht: nicht gezwungenermaßen, sondern aus freien Stücken – das tut zunächst einmal mir selber gut. Das gilt in meinem Verhältnis zu anderen Menschen, aber auch im Verhältnis zu Gott. Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht mir selber verdanke: Mein Leben, meine Gesundheit, viele kleine und große Glücksmomente. Natürlich könnte ich diese Dankesschuld gegenüber Gott auch leugnen. Zum Beispiel, weil ich sie als Last empfinde. Zum Beispiel, weil es meinem Selbstwertgefühl gegen den Strich geht, in irgend einer Weise von Gott abhängig zu sein.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich sage nicht, dass man damit Gott Unrecht täte, und dass deshalb Undankbarkeit gegenüber Gott nicht sein darf. Gott kann damit leben, dass Menschen undankbar sind – er tut es schon seit ewigen Zeiten. Viel wichtiger scheint mir, dass man sich selber damit keinen Gefallen tut. Undankbare Inselmenschen täuschen sich über ihren wirklichen Platz im Leben, über die Abhängigkeiten, in denen sie stehen, auch über die Möglichkeiten, die sich ihnen eröffnen, wenn sie Danke sagen. Wer dankt, erkennt an, wo seine Grenzen liegen. Und wer seine Grenzen kennt, schätzt auch seine Fähigkeiten und Kräfte besser ein. Er lebt realistischer als jemand, der nicht dankt.

Ich könnte mir vorstellen, dass das Erntedankfest nicht zuletzt deswegen entstanden ist, weil Menschen gemerkt haben: Säen und Ernten gehört zu den Dingen, bei denen ich eben nicht sagen kann:„Ich habe niemanden nötig. Alle meine Erfolge verdanke ich nur mir selber.” Was beim Sägen und Hobeln, beim Jagen und Sammeln vielleicht nicht so deutlich wird: hier ist es unübersehbar. Mein Fleiß und meine Arbeit sind nicht allein ausschlaggebend. Es gibt da noch einen Faktor, den ich nicht selber beeinflussen kann. Ich bin abhängig vom Wohlwollen eines anderen.

Und die gute Nachricht ist, dass dieser eine andere, von dem ich abhängig bin, mir tatsächlich wohlwill. Das zu vergessen oder zu leugnen, schadet mir mehr als ihm. Darum erinnern wir uns jedes Jahr von neuem an seine guten täglichen unauffälligen Gaben.

Natürlich können wir ihm das nicht „wieder gut machen”, wie es in der Redewendung heißt. Aber das brauchen wir auch nicht. Ich denke, es wird so ausgehen, wie in einem Gedicht von Lothar Zenetti:

Sprecher:
Einmal wird uns gewiss die Rechnung präsentiert
Für den Sonnenschein und das Rauschen der Blätter,
die sanften Maiglöckchen und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras
und die Schmetterlinge, für die Luft,
die wir geatmet haben, und den Blick auf die Sterne
und für alle Tage, die Abende und die Nächte.
Einmal wird es Zeit, dass wir aufbrechen und bezahlen.
Bitte die Rechnung.
Doch wir haben sie ohne den Wirt gemacht:
Ich habe euch eingeladen, sagt der und lacht,
so weit die Erde reicht: Es war mir ein Vergnügen!

Autor:
Ein schönes Erntedankfest wünsch ich. Ich bin Traugott Vitz, Pfarrer in Hilden.

1 [1]Dorothy L. Sayers, Aufruhr in Oxford, Tübingen 19811, S. 61


Audiobeitrag ErnteDank


Druckversion

Suche

Sendungen der Woche

Sendungen am Sonntag

Sendungen im Fernsehen