Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

30.09.05, 8.56 Uhr, Birgit Winterhoff

Die Bibel als Wegweiser

Die alte Dame war im Alter von 84 Jahren gestorben. Einige Tage nach der Beerdigung wird der Nachlaß unter den Erben aufgeteilt.

Aber was soll mit ihren Bibeln passieren? Gelesen sehen sie aus, einige Seiten sind lose, fallen fast heraus. Manche Bibelstellen sind rot unterstrichen. An anderen steht ein Datum. Als Erinnerung an ein wichtiges Ereignis, bei dem der Vers wichtig war. „Einfach wegwerfen wollen wir sie doch nicht. Aber was sollen wir damit machen?“ fragen mich die Angehörigen. Ich bin versucht zu antworten: „Lesen sollen Sie sie, denn dafür sind sie da!“

Woran liegt es wohl, dass Menschen, die nichts mit der Bibel anfangen können, dennoch so ehrfürchtig mit ihr umgehen? Sicher ist noch ein Überrest von Tradition vorhanden, die Bibel als etwas Besonderes zu behandeln. 

Lange habe ich mit den Angehörigen darüber gesprochen, was das Besondere an der Bibel ist. Zunächst heißt Bibel nichts anderes als Buch. Sie ist auf Papier gedruckt und gebunden wie jedes andere Buch auch. Man kann sie ins Regal stellen, in Ehren halten oder eben wegwerfen. Geschrieben ist sie jedoch fürs Lesen.

In ihr berichten Menschen aus vielen Jahrhunderten über ihre Erfahrungen mit Gott. Sie hatten ihre Sprach-, Ausdrucks- und Gedächtnismöglichkeiten und ihre Sprach-, Ausdrucks- und Gedächtnisprobleme. Menschen haben die Bibel geschrieben, übersetzt, gedruckt und uns verkauft. Sie haben mit ihren Worten erzählt, was Gott ihnen anvertraute, was sie mit ihm erlebt haben und was sie andern unbedingt mitteilen wollten, damit auch sie erkennen könnten, wer Gott ist und was er mit uns und dieser Welt vorhat.

 „Des Christus Kleid und Rock ist die Heilige Schrift, darinnen er sich sehen und finden lässt“, hat der Reformator Martin Luther über die Bibel gesagt.

Worte der Bibel trösten, rütteln wach, mahnen, korrigieren und ermutigen. Bis zum heutigen Tag entdecken Menschen Schätze in der Bibel, die sie nicht missen möchten. Sie spüren: Das, was hier berichtet wird, geht mich an, meint mich persönlich.

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn!“ Dieses Wort aus dem Alten Testament wurde für einen 24-jährigen kurz vor Ende seiner Ausbildung zum Leitwort. Konsequenz: Er engagiert sich in seiner Stadt für Kinder und Jugendliche, die keine Lobby haben. „Manchmal ist es ganz schön schwierig“, sagt er, „aber ich will nicht aufgeben. Der Einsatz lohnt sich.“
Darum betet er für seine Stadt und für alle, die Verantwortung tragen, und er arbeitet für sie.

In meiner Bibel steht auf den letzten Seiten ein Datum: Mai 1972. Außerdem ist dort eine Bibelstelle rot angestrichen. Im Mai 1972 hatte ich gerade das Abitur bestanden. Was ich danach tun wollte, war nicht richtig klar. Dann las ich: „Gott spricht: Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen.“ Für mich Ermutigung, mit dem Theologiestudium zu beginnen. Übrigens ein Wort, das mich bis heute begleitet.  

Was aus den Bibeln der alten Dame geworden ist? Die Angehörigen haben sie nicht weggeworfen. Sie liegen jetzt eingepackt auf dem Dachboden und warten darauf, wieder entdeckt zu werden.

Audiobeitrag Die Bibel als Wegweiser


Druckversion

Suche

Sendungen der Woche

Sendungen am Sonntag

Sendungen im Fernsehen