Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

11.09.05, 7.45 Uhr, Stephan Kiepe-Fahrenholz

Elfter September

Kann man am 11. September eigentlich über etwas anderes sprechen als über den 11. September?

Nicht wirklich, fürchte ich, und erst recht nicht auf einem kirchlichen Sendeplatz. Denn spätestens seit den Tausenden von Opfern des Anschlags auf das World Trade Center vor vier Jahren steht als ungelöste Frage auch wieder auf der Tagesordnung, was Religion anrichten kann.

Natürlich geht es bei der inzwischen seit Jahren und weltweit geführten Auseinandersetzung mit muslimischen Terroristen nicht bloß um Religion. Das brutale Machstreben der autoritären Regime in der arabischen Welt, die Gegensätze zwischen einzelnen islamischen Ländern wie zum Beispiel Iran und Irak, aber auch das Interesse des Westens an der Kontrolle über’s Öl und die leichtfertigen kriegerischen Aktionen der USA, die, wie wir spätestens jetzt sehen, mehr Probleme schaffen als lösen – das alles ist tausendmal gesagt, tausendmal diskutiert und auch alles richtig.

Das ändert allerdings nichts daran, dass Massenmorde im Namen Gottes begangen wurden und werden. Ein von sich selbst bis zur Selbsttötung über-zeugter Fundamentalismus lässt sich nicht einfach zwischen ökonomischen, politischen und soziologischen Faktoren wegdiskutieren. Nein, hier kommt Religion zum Vorschein, und zwar in ihrer bornierten, unduldsamen und unmittelbar gewaltbereiten Form.

Gewiss, nach jedem neuen Terroranschlag melden sich friedliche Muslime zu Wort und erklären die Attentäter zu Außenseitern des Islam. Richtig ist aber leider auch, dass bei jeder noch so scheußlichen Attacke auf unschuldige Frauen, Männer und Kinder der weltweite Aufschrei der weltweiten Gemeinschaft der Muslime bislang ausgeblieben ist. Das hat seinen guten Grund: Wenn die hinter dem Terror steckenden Prediger konstatieren, dass westliche Werte wie Autonomie und Freiheit im Gegensatz zum islamischen Gesetzeswerk stehen, haben sie nämlich völlig recht.
Ähnliches gilt übrigens für andere Glaubensgemeinschaften. Auch die jüdisch-christliche Bibel ist keineswegs die Gründungsurkunde des modernen Rechtsstaats oder das Manifest des selbstbestimmten Menschen. Das soll sie auch gar nicht sein. Sie soll und kann, genau wie der Koran, zum Anstoß des kritischen Dialogs zwischen dem glaubenden Menschen und einer zunehmend glaubenslosen Gesellschaft werden. Die Frage ist immer, wann der Dialog zum Monolog und die Kritik zur Selbstgerechtigkeit degeneriert.

Natürlich und Gott sei Dank gibt es im Bereich der christlichen Kirchen auch unter den dogmatischsten und konservativsten Erscheinungsformen derzeit nichts, was auch nur entfernt mit einem Monstrum wie Al-Qaida vergleichbar wäre. Aber, aller Unvergleichbarkeit zum Trotz, es ist kein Zufall, dass alle großen Konfessionen immer mal wieder dazu neigen, den angeblich unverbindlichen Pluralismus zu geißeln und angesichts einer komplizierten Wirklichkeit im Namen der Wahrheit eine säuberliche Einteilungen in Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht vorzunehmen.

Je komplexer unsere Welt wird, um so mehr neigt sie dazu, sich aus sich selbst heraus zu erklären. In solchen Zeiten haben Religionen einen schweren Stand. In der Defensive laufen sie Gefahr, sich auf ihre jeweiligen Absolutheitsansprüche zurückzuziehen.

Glaube, wirklicher Glaube hingegen braucht seinen Bruder, den Zweifel, wie das tägliche Brot. Er braucht das kontroverse Gespräch zwischen den Glaubenden, die kritische Besinnung. Glaube ist kein Besitz, den man hat. Sondern eine Aufgabe, die sich stellt, nämlich angesichts neuer Herausforderungen sich selbst immer wieder zu erneuern. Wo das verloren geht, endet Glaube in Mord und Totschlag.

 

Audiobeitrag Elfter September


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