|
Die hellen Seiten der Nacht
Schwarz ist die Nacht. Ohne Farben, ohne Konturen. In der Nacht sind alle Katzen grau, sagt man nicht umsonst. Unheimlich und bedrohlich kann sie sein. Man kann sich in der
Nacht verlieren und manches aus dem Blick verlieren. Aber auch viel gewinnen. Von der besonderen Atmosphäre, den besonderen Möglichkeiten, den hellen Seiten der Nacht will ich erzählen und Menschen zu Wort kommen lassen, die mir begegnet sind, auch einen Menschen aus der Bibel, der in der Nacht zu Jesus kam, Nikodemus.
Ich bin Dietmar Silbersiepe, evangelischer Pfarrer in Düsseldorf-Eller.
Musik 2: Trying to sleep, Robert Wyatt/Julie Tippetts
Autor Wenn Markus Linzbach nicht schlafen kann, dann schreibt er, Gedichte, Geschichten, Tagebuchaufzeichnungen. Am liebsten schreibt er in der Nacht.
O-Ton 1 Für mich ist es so, dass ich nachts Dinge wahrnehme, die ich tagsüber nicht wahrnehme, obwohl sie vielleicht auch da sind, aber die einfach überstrahlt werden, weil sie nicht im Vordergrund sind und weil sie erst wahrnehmbar werden, dadurch dass eben Nacht ist.
Autor Nacht ist Ohrenzeit. Leiseste Schritte vernehmen, den Wind in den Bäumen, ein Käuzchen im Park mitten in der Großstadt.
O-Ton 2 Das gilt auch für meine eigenen Gedanken. Ich nehme in der Stille andere Gedanken wahr als in einer ganz lauten Umgebung, wo ich sehr damit beschäftigt bin zu reagieren. Dabei kann ich dann auch Dinge hören, die ich am Tag nicht so wahrnehmen konnte, weil sie einfach zu leise waren. Also der Tag ist für mich der Zeitraum der Aktivität, des Aufnehmens, da sind viele Eindrücke, Erlebnisse, und die Nacht ist für mich der Zeitraum des Verarbeitens, des Nochmal-Wahrnehmens, noch mal Hinhörens auf die leisen Töne.
Autor Die Helligkeit der Straßenbeleuchtung killt den Sternenhimmel über den großen Städten. Wir deichen die Nacht ein durch das künstliche Lichtermeer. Wir haben die Angst vor der Dunkelheit durch die Furcht vor dem Stromausfall ersetzt. Und doch treibt uns die Sehnsucht nach der Nacht. Da sitzen wir als Touristen auf Inseln im Atlantik oder im Hochgebirge, wo uns kein menschen gemachtes Licht ablenkt, und bestaunen die nächtliche Natur vielleicht mit Rainer Maria Rilke:
Nina Hagen, Rilke Projekt: Die Welt, die monden ist Vergiss, vergiss, und lass uns jetzt nur dies erleben, wie die Sterne durch geklärten Nachthimmel dringen, wieder Mond die Gärten voll übersteigt. Wir fühlten längst schon, wies spiegelnder wird im Dunkeln; wie ein Schein entsteht, ein weißer Schatten in dem Glanz der Dunkelheit.
Autor Und leise nehmen wir wahr, dass diese Welt nur ein kleiner Teil der großen Schöpfung ist. Der kleine Planet Erde unter dem Sternenfirmament, dem ewigen Schwarz des Alls! Eine Ahnung von Unendlichkeit. Nicht zu messen. Nicht zu begreifen. Unter dem Großen Wagen den Kopf in den Nacken legen und staunen und sich erstaunlich mühelos der eigenen kleinen Endlichkeit gewiss werden in dem beharrlichen Festhalten an dem alten Glauben, dies alles habe der liebe Gott sich für uns ausgedacht: Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl! So verbringe ich gerne die Nacht. In der Nacht sind wir anders und intensiver bereit, die Welt und ihren Schöpfer zu erspüren.
Mario Adorf, Rilke Projekt: Aufgang Oder Untergang Aber die Abende sind mild und mein, von meinem Schauen sind sie still beschienen, in meinen Armen schlafen Wälder ein, und ich bin selbst das Klingen über ihnen, und mit dem Dunkel in den Violinen verwandt durch all mein Dunkelsein.
Autor Nacht ist Musik und gebiert Musik. Nocturne und Blues, "Eine kleine Nachtmusik" und Round Midnight.
Musik 3: Round Midnight, Miles Davis Quintett
Autor In der Nacht sind die Menschen anders, sagt Günther Thomas, seit 20 Jahren Nachtportier im Hotel Bismarck am Düsseldorfer Hauptbahnhof.
O-Ton 3 Die Gäste haben den Stress abgebaut abends. Sie müssen manchmal Gäste erleben, wenn die am Tag reinkommen, wie kruppelig und unfreundlich und unsympathisch. Und abends sind die auf einmal unheimlich locker und sympathisch. Ich krieg das ja, wenn ich komme
: Musst auf den Gast von Zimmer 21 aufpassen, den kannst du in die Tonne klopfen, der is ja furchtbar. Na gut, dann kommt der Gast abends vom Essen, und dann ist er freundlich, nett, lieb. Dann haben die Lust zu reden.
Autor Über solche Nachtgespräche, sagt Günther Thomas, könnte er ein Buch schreiben. Manchmal beichten ihm die Gäste sehr persönliche Geschichten in Gesprächen, die so am Tag nie stattfinden würden.
O-Ton 4 Ich arbeite nur ab und zu mal am Tag. Ich bin selbst ein Nachtmensch. Deswegen liegt mir die Nachtarbeit schon gut. Die passt bei mir.
Autor Und er passt für die Gäste. Viele von ihnen sind Stammgäste, kommen immer wieder und setzen sich spätabends zu ihm an die Bar.
O-Ton 5 Ich hab ganz einfach mehr Zeit für die Gäste, wie die am Tag. Wenn da dauernd Telefon geht und Anmeldungen und Absagen und das und die Anfragen und die Anfragen, dann hängen die nur am Computer, am Faxgerät, am Telefon. Und ich hab einfach die Zeit, mit den Gästen nachts zu reden. Deswegen find ich das auch so schön. Also ich finde, die Nacht tausendmal schöner als den Tag zu arbeiten.
Musik 4: Okay, Bugge Wesseltoft/Sidsel Endresen (Instrumental)
Autor Hör nie auf zu träumen, geh bis an die Sterne hin, egal wie verrückt, egal wie weit. Nichts ist für uns unerreichbar. Das hab ich von Dir gelernt. Träume sind für die Ewigkeit, Sterne brennen nicht aus, unter dem Lichterhimmel werden die Nächte nicht finster. Rot haben wir uns die Stadt gemalt bis hinunter zum Horizont. Was aber tun mit den Schatten? Wer wird sie verzaubern, vertreiben? Wer wird flüstern: alles ist gut?
Musik 5: Okay, Bugge Wesseltoft/Sidsel Endresen
O-Ton 6 In der Nacht bin ich auf mich selber zurückgeworfen. Es gibt wenig Eindrücke von außen, und ich bin im Grunde genommen gezwungen, mich mit mir selber zu beschäftigen und mit den Erfahrungen und Eindrücken, die ich aufgenommen habe und die dann vielleicht gerade in der Nacht wieder hochkommen. Die Nacht bietet für mich die Gelegenheit, die Dinge noch mal Revue passieren zu lassen und neu zu ordnen.
Autor Die Nacht ist die Zeit der Selbstbesinnung, der Gewissenserforschung, der Bilanz: Wo bin ich angekommen in meinem Leben? Wo will ich hin? Was ist mir wichtig? Was trägt mich? Die Bibel erzählt von einem Mann, Nikodemus, der sich mit solchem Gedankengewirr mitten in der Nacht aufmacht zu Jesus.
Sprecher - Nikodemus Nie hätte ich für möglich gehalten, dass es mich jemals zu Jesus treiben könnte. Ich, der Pharisäer - Jesus, der merkwürdige Prophet, über den meine Kollegen nur den Kopf schüttelten! In dieser Nacht war mir alles egal. Ich musste mit ihm reden. Ich ahnte, ich wusste: Wenn mir einer meine Gedanken ordnen kann, dann Jesus. Sie kreisten immer um dieselbe Frage: Das soll's jetzt gewesen sein? Mein alter Glaube an Gott war an einem Nullpunkt angekommen. Die Gebete zu Hause und in der Synagoge, die wöchentliche Sabbatfeier, ja, selbst die großen Feste in Jerusalem waren nur noch Routine. Da passierte nichts. Nichts mit mir, nichts in mir. Alles nur Gewohnheit, äußere Formen und Formeln, äußerer Schein! Und mein Wissen über Gott, meine Gelehrsamkeit? Nur Theorie, Theorie die den Verstand befriedigt, nicht aber das Herz! Der Glaube war mir zerronnen wie Sand zwischen den Fingern. Lange hatte ich diese Gedanken verdrängt. Leichtes Spiel im Tagesgeschäft, zunehmend schwierig an den Abenden, in den langen Nächten ohne Schlaf. In dieser Nacht war es so weit, war ich so weit.
Musik 6: Try, Bugge Wesseltoft/Sidsel Endresen (Instrumental)
Autor Es war spät in der Nacht. Und Nikodemus spürt, dass sie zu einer der wichtigsten in seinem Leben werden könnte. Jesus öffnet die Tür, so wie er jedem die Tür öffnet, der zu ihm kommt, wann auch immer. Wir wissen nicht genau, was dann geschah, erfahren wenig Details aus der nächtlichen Begegnung, die im 4. Kapitel des Johannesevangeliums erzählt wird. Aber Jahre später, so berichtet Johannes, steht Nikodemus am Grab Jesu. Er hat Myrrhe und Aloe mitgebracht, etwa hundert Pfund, ein kleines Vermögen. Er bringt es gerne. Das Gespräch damals in der Nacht hat sein Leben zum Guten verändert.
Die Nacht ist gesegnete Zeit. In der Nacht wurde Jesus geboren. In der Nacht wurde er von den Toten auferweckt. Von seiner dunkelsten Stunde am Vorabend des Karfreitag, der Stunde des nächtlichen Zweifels und der Verzweiflung im Garten Gethsemane, wird erzählt: Und es kam ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Die Nacht ist die Zeit der Engel. Die Mystik braucht das Dunkel. Wenn das Wirkliche nicht sichtbar ist, kann das Unsichtbare Gestalt annehmen.
Auch die Engel in sichtbarer Menschengestalt erleben wir vorzugsweise in der Nacht. Die Nacht miteinander teilen Liebende, teilen Kranke und ihre Nächsten am Bett. Miteinander verbrachte Nächte verbinden intensiver noch als gemeinsam verlebte Tage. Blickt man einander nach kurzem Schlaf am Morgen danach in die Augen, dann ist etwas gewachsen für den Tag, für das Leben am Tag.
Die Nacht soll uns für den Tag stärken, der Schlaf in der Nacht und die schönen wunderbaren Erfahrungen und Begegnungen in der Nacht, die das Leben verändern können.
Damit verabschiedet sich von Ihnen Pfarrer Dietmar Silbersiepe aus Düsseldorf.
Musik 1 / 6 / 7 - Sidsel Endresen+Bugge Wesseltoft, Out Here. In There, Track 11 LC 00699
Musik 2 - Soupsongs live the music of Robert Wyatt, Track 6 JPVP101CD
Rilke-Projekt: Nina Hagen / Mario Adorf, Track 1 und 2 LC 00316
Musik 3 - Jazz Parade 40s-60s, Giants of Jazz, Joker Tonverlag, Track 2 CD 53025
Musik 4 / 5 - Sidsel Endresen+Bugge Wesseltoft, Duplex Ride, Track 10 LC 7644
Die hellen Seiten der Nacht
|