Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

21.08.05, 8.05 Uhr, Joahnnes Doering

In Deinem Lichte sehen wir das Licht

Schwarz, arm und blind zu sein, das waren zu seiner Zeit wohl die denkbar schlechtesten Voraussetzungen dafür, irgend etwas aus seinem Leben machen zu können:

Ein trostloses Dasein als behinderter, hilfsbedürftiger Sozialfall am Rande der Gesellschaft war einem solchen Menschen vorgezeichnet. Anzunehmen, dass aus ihm eines Tages sogar ein großer Star würde, wäre vollends absurd gewesen. Aber Ray Charles hat das Unmögliche geschafft: mit einer genialen musikalischen Begabung, mit eisernem Willen  -  und mit Hilfe von Menschen, die erkannt haben, was in ihm steckte, und die ihn geschätzt, geliebt und zu ihm gehalten haben.

Ich selber habe ihn damals auf der Höhe seines internationalen Ruhmes einmal in einem Konzert erlebt. Mein Name ist Johannes Doering. Ich bin Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Unna und begrüße Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, ganz herzlich.

Der mittlerweile verstorbene Soul-Sänger und Pianist Ray Charles hat sein Augenlicht im Alter von sieben Jahren durch eine Krankheit verloren. Sein Leben ist kürzlich verfilmt worden. In diesem Film gibt es eine ergreifende Szene: der kurz zuvor erblindete Junge kommt in die Hütte, in der sie wohnen, stolpert, fällt hin  -  und bleibt liegen.

O-Ton Ray (DVD ab 1.06.39):
„Au! Mama! Mama, hilf mir! Mama, hilf mir! Mama, hilf mir, bitte! Ich kann das nicht ohne Dich!  (Hund im Hintergrund) Mama, hilf mir! Mama?“

Seine Mutter steht mucksmäuschenstill ein paar Schritte entfernt. Es zerreißt ihr das Herz, ihren Sohn so zu sehen, ihr stehen die Tränen in den Augen. Aber sie rührt sich nicht vom Fleck und gibt keinen Laut von sich. Sie weiß: er muss lernen, sich selber zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht in die Rolle des „armen Behinderten“ zu fallen, für den andere sorgen müssen. Als Ray merkt, dass alles schreien nichts nützt, steht er auf und geht vorsichtig tastend umher. Er lauscht und horcht. Kein Geräusch entgeht ihm. Er streckt seine Hände nach einem zischenden Wasserkessel aus, zieht sie aber sofort zurück, als er das heiße Herdfeuer bemerkt. Er tastet sich an der Wand entlang, bemerkt eine Wasch-Schüssel und lässt seine Hände an den Beinen des Waschtisches bis zum Boden gleiten. Da sitzt eine Grille. Sie hüpft eine Handbreit weiter, als Ray sie berührt. Blitzschnell fängt er sie und hält sie sich mit beiden Händen ans Ohr. Ein Leuchten geht über sein Gesicht, als er sie leise zirpen hört. Da dreht er sich langsam zu seiner Mutter um:

OT Ray: „Dich hör ich auch, Mama. Du bist genau da!“

Dass sie in der Nähe war, hat er die ganze Zeit gewusst und gespürt. Jetzt aber schließt sie ihn endlich in ihre Arme.


Musik


So, wie es dem kleinen blinden Ray mit seiner Mutter gegangen ist, so kann es uns in gewisser Weise auch mit Gott gehen. Wir sehen ihn nicht, und wenn wir zu ihm um Hilfe schreien, scheint er nicht zu antworten. Das macht es manchmal so schwer, an ihn zu glauben. Natürlich kennen wir all die frommen Argumente, die es darauf gibt: „Ein Gott, den man sehen könnte, wäre nicht Gott.“ „Glauben heißt: nicht wissen.“ „Ein Glaube, der Beweise forderte, wäre kein wirklicher Glaube.“ Das alles ist ja richtig  -  aber es hilft uns im Zweifelsfall nicht. Niemand kann immer nur gegen allen Augenschein glauben, ohne jemals etwas von Gott zu erfahren, ohne irgendwo Spuren seiner Gegenwart oder seines Wirkens zu entdecken.

Wie aber können wir etwas von Gott sehen oder entdecken? Zunächst einmal: was wir sehen, hängt nicht nur von unseren Augen ab. Man kann auch mit völlig gesunden Augen blind sein. Blind vor Begeisterung, vor Wut oder vor Liebe. Blind vor Eifersucht, Enttäuschung oder Eitelkeit. Blind für vieles Schöne, das uns allzu selbstverständlich geworden ist, oder für die Liebe eines Menschen und für das, was wir an ihm haben. Blind für Chancen, die sich bieten, für Gefahren, die uns drohen, oder für die Not anderer. Eltern sehen manchmal nur das aufsässige Verhalten oder die schlechten Schulnoten ihrer Kinder, sind aber blind für ihre wirklichen Probleme, die dahinter liegen. Kinder und Jugendliche sind manchmal über Anordnungen und Verbote ihrer Eltern wütend und empört, sehen aber die Sorgen nicht, die ihre Eltern sich um sie machen. Und nicht zuletzt sehen wir manches auch nicht, weil wir es nicht sehen wollen.

Das Entscheidende liegt oft unter der Oberfläche und hinter der äußeren Fassade, und man muss schon sehr genau und aufmerksam hinsehen, um es zu entdecken. Manches ist und bleibt unseren Augen überhaupt unsichtbar, wir können es, wie der Dichter Saint Exupéry einmal gesagt hat, nur tief in unserem Inneren spüren und „mit dem Herzen sehen.“ Das gilt in besonderer Weise für die Wirklichkeit Gottes, die in und hinter dem verborgen liegt, was wir äußerlich mit unseren Augen oder mit unseren anderen Sinnen wahrnehmen.

Manches Verborgene aber wird sichtbar, wenn wir es aus einem anderen Blickwinkel und in einem anderen Licht sehen. Was wir sehen, hängt oft davon ab, wie wir es sehen. So berichtet das Neue Testament, dass Jesus viele Menschen durch die Liebe, die er ihnen geschenkt hat, an Leib und Seele geheilt hat. Er hat ihr Leben von Grund auf verändert und ihnen neue Kraft und einen Neubeginn geschenkt, den niemand für möglich gehalten hätte, sie selbst vielleicht am allerwenigsten. In seiner Liebe haben sie etwas von Gottes Liebe und in der Kraft, die er in ihnen geweckt hat, Gottes heilende, befreiende Macht gespürt. Andere haben es allerdings ganz anders gesehen und gesagt: „Das sind alles nur faule Tricks, mit denen Jesus die Leute beeindrucken will!“

Mit ihren Augen sehen Geheilte und Skeptiker, Anhänger und Gegner Jesu also dasselbe  -  aber sie sehen es anders. Entscheidender als das, was wir sehen, ist oft, wie wir es sehen. Das sind keine bloßen Gedankenspielereien, kein bloßes „als ob,“ sondern das hat Folgen. Einer meiner Konfirmanden hat dazu gesagt: „Wenn man dasselbe anders sieht, ist es nicht mehr dasselbe.“ Und er hat Recht. Alle großen und kleinen Neuerungen der Weltgeschichte haben irgendwo damit begonnen, dass jemand etwas anders und in einem neuen Licht gesehen hat. Das, was ist, und das, was sein könnte und sein wird. Wenn man dasselbe anders sieht, ist es nicht mehr dasselbe. Es wird selber etwas anderes und verändert vieles. Manchmal sogar alles.


Musik


Wie erfahre ich etwas von Gott? Im 36.Psalm finde ich einen Hinweis, der mir weiterhilft. Da heißt es: „Bei Dir, Gott, ist die Quelle des Lebens, und in Deinem Lichte sehen wir das Licht.“ Der ganze Weltraum ist voller Licht, und doch ist er dunkel. Ich sehe das Licht erst, wenn es irgendwo auftrifft, reflektiert wird und in mein Auge fällt: in diesem Licht sehe ich dann, was sonst im Dunkeln bliebe. Was aber für das sichtbare Licht gilt, das gilt auch und erst recht für das Licht Gottes, das meinen Augen unsichtbar ist: wenn ich die Welt, uns Menschen und das Leben in seinem Licht zu sehen lerne, sehe ich es wirklich und erkenne hinter dem, was äußerlich sichtbar ist, ihn selbst.

Die Welt in seinem Licht zu sehen heißt: sie als Gottes Schöpfung zu sehen und dabei etwas von der Größe und dem Reichtum ihres Schöpfers zu begreifen, der sich in ihr widerspiegelt. Ihre Schätze und Kräfte zu nutzen  -  und dabei achtsam mit ihr umzugehen und sie im Rahmen meiner Entscheidungs- und Handlungsspielräume zu bewahren, so gut ich kann.

Uns Menschen in seinem Licht zu sehen heißt: uns so zu sehen, wie die Bibel uns sieht: als Ebenbilder Gottes  -  jeden von uns auf eine besondere, einmalige und ganz eigene Weise. Sie spricht mir damit einen Wert und eine Würde zu, die ich nicht erst erkämpfen und niemandem beweisen muss, weder durch irgend welche Leistungen und Erfolge noch dadurch, dass ich mich den Maßstäben anpasse, mit denen andere mich beurteilen. Und die unverlierbar und unzerstörbar ist. In dem Maße, in dem ich das annehme und in mir aufnehme, wird Gott zum tragenden Grund meines Lebens und eines Selbstvertrauens, mit dem ich zu mir selber stehen und zugleich andere bejahen und gelten lassen kann.

Das Leben in seinem Licht zu sehen heißt: es als sein Geschenk zu sehen, mit dem er mir zugleich eine Verantwortung für mich selbst und für andere gegeben hat. In allem Glück und allem Guten, das ich erlebe, und insbesondere in der Freundschaft oder Liebe, die mich mit anderen verbindet, etwas von seiner Liebe zu spüren. Ihr in mir und im Umgang mit anderen Raum zu geben und sie allem entgegenzusetzen, was mich ängstigt und bedrückt. In ihr die Kraft zu finden, Unrecht zu bekämpfen und Zwänge abzustreifen, die mir und anderen die Luft zum Atmen nehmen. Und in dem, was da aufbricht und in Bewegung kommt, Gottes heilende, befreiende Kraft und seinen Atem zu spüren.

So wie der kleine Ray nach seiner Entdeckungsreise in den Armen seiner Mutter ihren Atem, ihren Herzschlag und ihre Wärme spürt  -  und merkt, dass sie weint. „Wieso weinst Du, Mama?“ fragt er; und sie antwortet: „Weil ich glücklich bin.“

Am Mikrophon verabschiedet sich von Ihnen Johannes Doering aus Unna von der Evangelischen Kirche.

Audiobeitrag In Deinem Lichte sehen wir das Licht


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