"Besuchsdienst war meine Aufgabe" - Gefängnispfarrer Poelchau
Gott, zu Dir rufe ich in der Frühe des Tages. Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln zu Dir
ich kann es nicht allein.
In mir ist es finster, aber bei Dir ist das Licht; ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht; ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe; ich bin unruhig, aber bei Dir ist der Friede; in mir ist Bitterkeit, aber bei Dir ist die Geduld; ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich.
Autor: Mit diesem Morgengebet begrüße ich sie, liebe Hörerin, lieber Hörer. Mein Name ist Henning Theurich. Geschrieben hat das Morgengebet Dietrich Bonhoeffer. Er schrieb es im Gefängnis kurz vor Weihnachten 1943, auf besonderen Wunsch des Gefängnispfarrers Harald Poelchau, der Bonhoeffers Gebete für Mitgefangene auf den Zellen verteilte - illegal. Poelchau, der Bonhoeffer im Gefängnis Berlin - Tegel ein dreiviertel Jahr lang fast täglich besuchte, sagt von ihm, dass ganz eindeutig er der Gebende und ich der Nehmende war. Aber auch Poelchau hat in finsterster Zeit zahllosen Menschen innerhalb wie außerhalb der Gefängnismauern viel gegeben. Wer war dieser Harald Poelchau? Klaus Harpprecht nennt ihn in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Biographie den reinsten Geist des Widerstandes: denn er lebte - todesbereit - ganz aus der Liebe zum Nächsten.
Harald Poelchau war 29 Jahre alt, als er am 1. April 1933 die Gefängnispfarrstelle in der Haftanstalt Berlin - Tegel antrat, und er behielt sie bis 1945. Man kann darin eine besondere Fügung sehen, dass ausgerechnet Poelchau - ein entschiedener Gegner der Nazis - der erste von den Nazis angestellte Gefängnisgeistliche war. Poelchau sagt dazu:
Sprecher: Die Tatsache, dass ich der erste vom NS - Regime berufene Strafanstaltspfarrer war, hat mir später in Konfliktsfällen manchmal genützt. Ich war kein Kirchen -, sondern Justizbeamter. Das erklärt wohl das Wunder, dass ich bis zuletzt, trotz allen Kampfes des Nationalsozialismus gegen die Kirche Dienst tun durfte.
Autor: Für diesen Dienst hatte er sich doppelt qualifiziert, sowohl durch seine Ausbildung zum Theologen als auch zum Sozialarbeiter. Er gehörte zur Gruppe der religiösen Sozialisten, von der Poelchau sagt, dass sie das Unbedingte für den Menschen auch in seiner Ordnung der modernen Industriegesellschaft zur Erfüllung bringen wollten. Die Formen der kirchlichen Gemeindearbeit schienen dafür ungeeignet, weil zwischen Arbeiterschaft und bürgerlicher Gemeinde eine tiefe Kluft war, tiefer noch als heute. Für Poelchau waren es hauptsächlich zwei Gründe, sich als Gefängnispfarrer zu bewerben:
Sprecher: Schon von jeher hatte mich die Arbeit mit Gefangenen gelockt, entsprach sie doch meinen Vorstellungen, dass der Kirche immer der unterste Weg als der ihr gemäße gewiesen sei. - Und: 1933 zeigte sich, dass man nur noch an einer Stelle in Freiheit arbeiten konnte, in der Kirche, die sich nicht gleichschalten ließ, und dass man nur an einer Stelle sicher war, im Gefängnis.
Autor: Damit war für Harald Poelchau sein Leben im Widerstand vorgezeichnet.
Musik (1)
Autor: Im Rückblick auf seine Arbeit als Gefängnispfarrer in Berlin - Tegel von 1933 bis 1945 schreibt Harald Poelchau:
Sprecher: Am liebsten nahm ich die beiden Hauptgebiete des Anstaltspfarrers wahr: die Fürsorge und die Seelsorge. Für die Fürsorge im engeren Sinn war ich ja durch mein Wohlfahrtsexamen vorgebildet und kannte die zuständigen Ämter und Stellen, wenn ich Eheverhältnisse regeln, Kinder unterbringen, Eigentum sicherstellen und für die zu Entlassenden Kleidung, Arbeit und Unterkunft zu beschaffen hatte. Vieles ließ sich von der Seelsorge nicht trennen, besonders Eheschwierigkeiten und alles, was in das Gebiet der Beichte gehört. Im vertrauten Gespräch in der Zelle wurde viel gebeichtet. Über diesen innersten und wichtigsten Teil der Seelsorge lässt sich naturgemäß nichts berichten. -
Autor: Wohl aber sagt Poelchau, was für ein Ziel seine Seelsorge hat:
Sprecher: Die seelsorgerlichen Gespräche sahen und sehen im Gefängnis grundsätzlich nicht anders aus als in der Freiheit. Immer müssen sie deutlich machen, dass der gesellschaftliche Schuldbegriff nicht dem gleicht, was uns wirklich von Gott trennt, und dass Gott andere Maßstäbe hat, großzügigere, aber auch feinere, den Menschen im Innersten Treffende, als der jeweils geltende Moralkodex oder das Strafgesetzbuch.
Autor: Poelchau hatte die Begabung, mit Christen, Atheisten, Humanisten, Sozialisten und Kommunisten in gleicher Weise umzugehen. Er war davon überzeugt, dass es durch alle Verschiedenheiten hindurch einen letzte Gemeinsamkeit gibt, die unverlierbar ist und worin ihre Würde besteht: jeder Mensch ist Geschöpf und Ebenbild Gottes. Poelchau gehörte zu den Verschwörern im so genannten Kreisauer Kreis, den Helmuth James Graf von Moltke um sich gesammelt hatte. Mit ihm wie mit seiner Frau Freya waren die Eheleute Harald und Dorothee Poelchau befreundet. Freya von Moltke schreibt über Poelchau:
Sprecherin: Er war ein großer Seelsorger. Schon sein Stil wirkte wohltuend. Selbst ein Pfarrerssohn aus Schlesien, war er doch ganz und gar unpastoral. Das Predigen wurde ihm immer schwer, aber sein christlicher Trost saß und half immer. Er war sachlich, nüchtern, unsentimental. Aber er kannte und achtete menschliche Herzen. In jedem Gegenüber respektierte er den Menschen, ob die Person den Kriminellen, den Politischen oder welcher sozialen Schicht auch immer angehörte. Er war klassenlos.
Autor: Poelchau selber begründet seinen Dienst schlicht mit der Bibel. Er schreibt:
Sprecher: An einer Stelle des Neuen Testaments ist mir immer besonders deutlich geworden, dass Jesu Worte kein literarisches Produkt und keine Theorie sind, sondern praktisch gewonnen und durchdacht. Wenn es Matthäus 25 heißt: Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist, durstig und ihr habt mich getränkt, nackend und ihr habt mich bekleidet, dann fährt er nicht fort, wie jedes Literaturprodukt es tun würde: Ich bin gefangen gewesen und ihr habt mich befreit, sondern er ist realistisch genug, fortzufahren: Ihr habt mich besucht. Man kann im allgemeinen Gefangene nicht befreien, aber man kann sie besuchen. Besuchsdienst war meine Aufgabe.
Autor: Eine besonders schwere Aufgabe, wuchs ihm durch die politische Situation seit 1933 zu: nämlich die seelsorgliche Betreuung der politischen Gefangenen und die Begleitung der zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer bis zu ihrer Hinrichtung. Poelchau sagt, dass er allein in jenen Jahren mehr als tausend Menschen auf ihren gewaltsamen Tod vorzubereiten hatte. Über die langen Stunden der letzten Nacht vor der Hinrichtung schreibt er:
Sprecher: Es gab Menschen, die kaum ein Wort sprachen und in tiefe Gedanken versanken. Es gab andere, die mir ihre persönlichen Geheimnisse anvertrauten. Sie taten in diesen Stunden ihre Seele auf, ihren Reichtum an Liebe, Schmerz und Enttäuschungen. Sie ließen mich teilhaben an ihrem Lebensweg. Sie wussten, dass sie mir vertrauen durften. Hier lag meine wahre Aufgabe. ... Mancher Gefangene fand in solchen Nachtstunden die Gelassenheit für den letzten Gang.
Autor: Harald Poelchau war ein entschiedener Gegner der Todesstrafe: Er hatte die Überzeugung gewonnen, dass die Todesstrafe ein Verbrechen wie jeder Mord ist, dass es nur Gott allein zukommt, ein Menschenleben auszulöschen.
Musik (2)
Autor: Der Schriftsteller Peter Weiss hat in seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands dem Seelsorger Harald Poelchau ein Denkmal gesetzt. Im Zusammenhang mit der Folter und Hinrichtung der kommunistischen Widerstandskämpfer der Roten Kapelle schreibt Peter Weiss über ihn:
Sprecher: Von Zelle zu Zelle gehend, war er ihnen, die von ihren hohen Zielen in tiefste Erniedrigung geworfen werden sollten, zum Boten geworden, der Lebenszeichen überbrachte, einen jeden hatte er in seinem Abgrund angetroffen.... Was der Seelsorger zur Ausübung seines Berufs gelernt hatte, war längst ersetzt worden durch andre Einsichten. Teilte er auch nicht die politischen Vorstellungen der Gefangnen, so ergriff ihn doch ihre unnachgiebige Suche nach dem, was für sie das Wahre bedeutete, nie hätte er sich weigern können, einen letzten Wunsch zu erfüllen, auch wenn er sich selber damit in Lebensgefahr brachte. Nach der langen Zeit, die er zwischen den Gemarterten verbracht hatte, war ihm der Dienst an dem Gott, an den er glaubte, zu einem Dienst an der menschlichen Würde geworden.
Autor: Poelchau hätte darin wohl keinen Gegensatz gesehen; denn der Dienst am Nächsten war für ihn auch Dienst für Gott. Und das auch außerhalb der Gefängnismauern. Gemeinsam mit seiner Frau Dorothee hat er ein regelrechtes Netzwerk für Hilfesuchende aufgebaut. Freya von Moltke erinnert sich:
Sprecherin: Poelchaus Seelsorge und Fürsorge wurde äußerst praktisch, als er daran ging, in Berlin mit seiner Frau Dorothee ein Netzwerk der Hilfestellung für Verfolgte des Regimes aufzubauen und zu benutzen, als sie begannen, auch jüdischen Menschen beizustehen und sich zu verstecken, unterzutauchen, wie man das nannte, und sich zu ernähren. Sie waren in ihrer Hilfe kühn und völlig bedenkenlos, was ihre eigene Sicherheit anging. Und groß war die Gefahr, von Spitzeln angezeigt zu werden. Autor: Was aber wie durch ein Wunder nicht geschah. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden viele Frauen der Hauptbeteiligten in Sippenhaft genommen. Poelchau kümmerte sich auch um sie, indem er sich Zutritt im Gefängnis von Moabit verschaffte. Freya von Moltke weiß, dass er es war, der vielen von ihnen die Nachricht vom Tode ihrer Männer bringen musste. Aber er war es auch, der später verborgen im zerrissenen Futter seines Anzugs den Frauen mit Butter und Honig bestrichene Brötchen mitbrachte, die Dorothee zurecht gemacht hatte. Es mag heute unwichtig erscheinen. Damals machte es Mut zum Weiterleben. Und das war es wohl, was Harald Poelchau als Gefängnispfarrer von Tegel mit seiner Seelsorge und Fürsorge vielen Menschen gegeben hat: den Mut zum Weiterleben einen Mut, der auch im Schwersten standhalten kann, weil er im Unbedingten begründet ist. Poelchau berichtet von seiner letzten Begegnung mit dem zum Tode verurteilten Verschwörer General von Hase, dem Stadtkommandanten von Berlin, am 8.August 1944 an der Hinrichtungsstätte Plötzensee:
Sprecher: Es tat ihm wohl, in dieser Stunde ein vertrautes Gesicht zu sehen. Er hatte mit seiner Familie lebhaft Anteil an meiner Arbeit genommen. Wir hatten uns zuletzt im Gefängnis Tegel gesehen, wo er in voller Uniform seinen gefangenen Neffen Dietrich Bonhoeffer besuchte. Nun stand er, ebenso wie Generalfeldmarschall von Witzleben mit alten Gefangenenhosen bekleidet, zum letzten Gang bereit. Aber beide waren wirklich bereit und überzeugt von dem, was der alte Vers sagt: Kann uns doch kein Tod nicht töten, sondern reißt unsern Geist aus viel tausend Nöten.
Autor: Diesen alten Vers aus einem Lied von Paul Gerhardt hatte Dietrich Bonhoeffer an den Schluss seiner Gebete für Mitgefangene gestellt. Harald Poelchau hatte sie weitergegeben.
Unverzagt und ohne Grauen Soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen. Wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag. Ich bin Henning Theurich, Pfarrer der evangelischen Kirche in Bonn.
Zum Nachlesen: Klaus Harpprecht: Harald Poelchau Ein Leben im Widerstand, (Rowohlt) 2004
Ludwig Mehlhorn (Hg.): Ohr der Kirche, Mund der Stummen. Harald Poelchau. Eine Tagung zu seinem 100. Geburtstag (Berliner Begegnungen 4) Wichern Verlag, Berlin 2004
Harald Poelchau: Die Ordnung der Bedrängten. Autobiographisches und Zeitgeschichtliches seit den zwanziger Jahren, Berlin 1963 (2. erweiterte Auflage 2004)
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, Roman, (Suhrkamp) Bd.3, 1983
"Besuchsdienst war meine Aufgabe" - Gefängnispfarrer Poelchau
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