Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

19.08.05, 6.56 Uhr, Albrecht Philipps

Abschied lernen

Bald ist es wieder soweit. Dann gehen die Sommerferien zu ende. Im Kindergarten werden die neuen Kinder aufgenommen. In der grünen und in der gelben Gruppe wird sich dann

wieder einiges verändern. Die einen sind nämlich in die Schule gekommen und werden nicht mehr da sein. Jeden Morgen hatten sie ihre Jacke und ihre Tasche mit dem Frühstück an den gleichen Haken gehängt und darunter ihre Schuhe gestellt. Ein kleines Bild half, den richtigen Haken jeden Morgen wiederzufinden. Jetzt werden andere Kinder ihre Sachen dort lassen und den Vormittag im Kindergarten spielen und lernen, Freundschaften schließen und Streit austragen, gemeinsam essen, lachen und weinen. Im Herbst werden sie Kastanien suchen und den Laternenumzug vorbereiten. Im Winter den ersten Schnee herbeisehnen und dann einen Schneemann bauen, bis ihnen die Hände frieren.

Der Abschied am Morgen fällt vielen Kindern schwer, wenn sie neu sind im Kindergarten. Alles, was ihnen bisher vertraut war, müssen sie für ein paar Stunden verlassen: Die gewohnten Räume zuhause, die Stimmen der Eltern und Geschwister, das eigene Spielzeug. Sie müssen sich auf andere Menschen einstellen, die ihnen noch fremd sind: auf die Erzieherinnen und die vielen anderen Kinder. Der Abschied von der Mutter oder dem Vater an der Tür zur gelben oder zur grünen Gruppe: ein richtiges Ritual. Eine Umarmung, ein Küßchen "Mach's gut und bis hinterher, ich hole dich zum Mittagessen ab!" So oder so ähnlich wiederholt es sich jeden Morgen.

Aber auch den Eltern fällt es oft nicht leicht, die eigenen Kinder in die fürsorglichen Hände anderen Menschen zu geben. Vielleicht auch deshalb, weil sie ahnen: Dieser Abschied ist erst der Anfang. Es werden noch viele, viele Abschiede folgen. Ja, das ganze Leben ist eine Kette von Abschieden, einer folgt dem anderen. Es fängt leicht an, mit einem liebevollen Abschied an der Kindergartentür, und hinter dieser Tür beginnt der eigene Weg, den die Kinder ohne die Eltern gehen müssen. Es folgen die eigenen Pläne in der Jugend, die eigenen Vorstellungen vom Leben.

Abschiede sind schwer. Etwas leichter fallen sie, wenn wir wissen: Nach jedem Abschied gibt es ein Wiedersehen. Das lernen die Kinder, wenn sie nach den Stunden im Kindergarten wieder abgeholt werden. Sie lernen es nicht oberflächlich, nein, sie verinnerlichen es geradezu. Ja, darauf können sie sich verlassen. Und kaum etwas ist schlimmer für Kinder und Erwachsene, als in dieser Gewissheit gestört und erschüttert zu werden: Dass es eben kein Wiedersehen gibt, dass der Abschied endgültig bleibt. Aber auch diese Erfahrung machen wir in unserem Leben: eine Gemeinschaft ist unwiederbringlich zerstört und ein Wiedersehen ist undenkbar.

Die kleinen Abschiede sollten wir ernst nehmen und sie dabei leicht und fröhlich gestalten. So kleine wie die an der Tür des Kindergartens. Denn sie bereiten uns vor auf die vielen, vielen Abschiede, die im Laufe eines Lebens noch folgen.

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