Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

17.08.05, 7.50 Uhr, Albrecht Philipps

Erblast

"Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kinder sind die Zähne davon stumpf geworden." (Hesekiel 18, 2)Ein Satz vom Propheten Hesekiel, der im alten Israel

sprichwörtlich geworden ist.

Was es meint, kann man sich vielleicht so vorstellen: Wer noch nicht ganz ausgereifte Trauben isst, die mit ihrem leicht säuerlichen Geschmack gern zur Erfrischung genossen wurden, bei dem stellt sich die unangenehme Empfindung eines leichten Belages der Zähne ein. Man hat das Gefühl, die Zähne seien stumpf geworden. Wer also solche sauren Trauben isst, der muss sich auch mit den Folgeerscheinungen abfinden.

Natürlich will dieses Sprichwort –wie alle anderen auch- im übertragenen Sinn verstanden werden. Und zwar so: Kinder können auch unter den Erfahrungen ihrer Eltern leiden. Kinder bekommen mit, was die Eltern und Großeltern erlebt haben und getan haben.

So absurd ist das nicht, denn es gibt tatsächlich Erfahrungen, die sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen. Das erlebe ich hier in der evangelischen Gemeinde in Ochtrup im Münsterland. Die meisten Gemeindeglieder stammen aus Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge etwa aus Schlesien, Ostpreußen oder Pommern hier Arbeit und ein neues Zuhause gefunden haben. Die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung nach dem Krieg haben sich auch auf die Kinder- und Enkelgeneration übertragen, obwohl die Kinder und Kindeskinder dieses Schicksal gar nicht selbst erlitten haben.

Ja, oft haben die Eltern davon nicht einmal erzählt, sondern darüber geschwiegen. Manche haben erst mit ihren Enkeln angefangen, davon zu sprechen. Irgendwie aber wirkt es sich trotzdem aus, auf Kinder und Enkelkinder. Heimat ist für die Generation, die geflohen ist, etwas anderes als für die, die immer schon Münsterland gelebt haben. Auch die Kinder und Enkel der Flüchtlingsgeneration wissen, dass sie Wurzeln haben, die einmal abgeschnitten worden sind. Vielleicht sind die Kinder und Enkel dieser Flüchtlingsgeneration deshalb nicht so ortsgebunden wie andere. Sie blieben durch die Erfahrungen der Eltern und Großeltern Menschen, die auf der Suche sind.

Der Prophet Hesekiel sagt nun weiter: dieses alte Sprichwort von den sauren Trauben soll nicht mehr gelten. Jeder Mensch soll selbst verantwortlich sein für das, was er tut und oder nicht tut. Das ist das Neue, das der Prophet Hesekiel sagt: Es gibt keine Erbschuld und es gibt keine Erblast, die sich von der einen auf die andere Generation übertragen lassen. Jeder Mensch darf wirklich neu anfangen und soll sich nicht durch das belastet wissen, was die Väter und Mütter getan haben oder erlebt haben. Kinder und Enkel sollen die Suppe, die die Eltern ihnen eingebrockt haben, nicht auslöffeln.

Auf Gott übertragen: Er sucht die Verfehlungen der Eltern nicht bei den Kindern. Jede Generation, jedes Kind, fängt bei Gott neu an. Jeder Mensch bekommt eine eigene Geschichte, die unbelastet und unbeschwert beginnt. Das Sprichwort von den sauren Trauben und den stumpfen Zähnen ist für Christen erledigt.

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