Ich habe keinen Menschen...
38 Jahre ist einer krank. Gelähmt. Man hat ihn zu einem Ort gebracht, wo es dann und wann Heilungen geben soll.
Bethesda heißt der Ort: Haus der Barmherzigkeit. Da bleibt er. 38 Jahre lang. Was soll er sonst auch? Er wird nie die Kraft haben, das Schicksal zu überlisten. Aber wenn er diesen Ort aufgibt, dann gehört er nicht einmal mehr zu denen, die auf etwas hoffen. Hier teilt er zumindest die Hoffnung der Hoffnungslosen.
Eines Tages steht Jesus Christus vor ihm; spricht ihn an: "Willst du gesund werden ?" Eine überflüssige Frage? Was er denn sonst wollen kann?
Wer so reagiert, hat sich noch zu wenig umgeschaut, zu wenig auch in sich selber hineingehorcht. Denn wer so lange krank ist, gewöhnt sich an seine hoffnungslose Hoffnung, der liebt das doch so aussichtslose Warten auf die Glücksfee, wird vielleicht sogar süchtig danach. Wer so lange mit kranker Hoffnung im Haus der Barmherzigkeit aufgenommen ist, bei dem stellt sich Hospitalismus ein, wie die Fachleute sagen: Er hat sich in seiner Krankheit eingerichtet und fürchtet die Welt da draußen, die gesunde Welt. Er braucht schon die engen vier Wände seiner klein gewordenen Welt der Ohnmacht.
Und doch, der da so fragt, der kommt mit der Frage des Lebens. Er spricht die entscheidende Frage aus: "Willst du leben? Willst du, dass dein Leben heil wird, vollendet? Oder willst du nur im Kummer hausen, im Leid stecken bleiben, in Schuld gefangen, in Bitterkeit gelähmt?
Willst du weiter im Konkurrenzkampf um die Gunst des Schicksals verstrickt bleiben? Weiterhin dein Glück im Trost der Tabletten und Tinkturen, in Zufall und Sternen... suchen? Oder willst du aufwachen und aufstehen, auferstehen? Willst du gesund werden?"
Nicht verwunderlich, wenn einer, dem 38 Jahre lang die Hoffnung eingeschmolzen wurde, ausweichend antwortet. Und doch: In diesem Ausweichen ist die Antwort so enthüllend, wie sie nur sein kann: "Ich habe keinen Menschen..."
Elender, trostloser kann es nicht aussehen. "Ich habe keinen Menschen.." Nach 38 Jahren ist er von allen aufgegeben worden. Da ist keiner mehr, der noch einen Pfifferling auf ihn setzt. Einsamkeit, tiefste Einsamkeit spricht daraus. Die Bitterkeit der Enttäuschungen ist schon zur Gewohnheit geworden. "Ich habe keinen Menschen" - das heißt: Ich habe immer das Nachsehen. Ich bin in der Konkurrenz des Lebens immer hoffnungslos unterlegen.
Wie enthüllend ist diese ausweichende Klage für uns alle, die wir uns Menschen nennen: "Ich habe keinen Menschen..!"
O ja, es gäbe genug. Menschen sind mehr denn je auf dieser Erde. Aber Menschen für Menschen, Mitmenschen, Nächste, dem anderen ein Nächster? Ach, da gehen tausend auf ein Lot! Diese Antwort wird für mich zu einer dringenden Frage: Wem bin ich heute ein Mensch?
Ich habe keinen Menschen...
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