Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

05.02.13; Annette Schmitz-Dowidat

Ver-rückt sein dürfen

An einem Tisch werden Papierblumen gefaltet, an einem anderen aus Tonpapier kreative Muster geschnitten. Heute besuche ich meine Oma, Sie lebt in einer Senioreneinrichtung.

Nun will sie mir eine neue Freundin vorstellen, die sie heute in der Bastelgruppe vermutet.

Mir fällt mir eine Frau auf, die etwas abseits sitzt. Sie hält mehrere Streifen Tonpapier in der Hand. Einen nach dem anderen legt sie sie auf den Tisch und scheint dabei etwas zu murmeln. Dann nimmt sie die Streifen wieder in die Hand und legt sie wieder nacheinander auf den Tisch, und noch mal, und noch mal – wie in einer endlosen Schleife. Als wir an ihr vorbeigehen, höre ich, dass sie die Streifen zählt. „Eins, drei, fünfundzwanzig, dreißig, vier...“, murmelt sie vor sich hin. „Das ist Frau Wagner“, flüstert meine Oma. Und setzt leise hinzu. „Frau Wagner ist schon ein bisschen verrückt.“

Eine der Pflegekräfte setzt sich neben Frau Wagner und blickt sie freundlich an. „Na, Frau Wagner, Sie haben wieder viel zu tun, nicht wahr?“, sagt sie freundlich. Frau Wagner nickt eifrig und zählt konzentriert weiter. Sie ist in ihrer eigenen Welt, weggerückt von der Welt der anderen. Doch dort scheint es ihr gut zu gehen.

Wie schön, denke ich, dass man hier auch ver-rückt sein darf. Dass jeder der sein darf, der er hier und jetzt ist. Auch mir selbst tut dies gut – einfach ich sein zu dürfen, egal, was andere über mich denken.

Sprecherin: Alexa Christ

 

Audiobeitrag Ver-rückt sein dürfen


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