Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

18.03.12; Pfarrerin Antje Rösener

Weniger ist mehr - Pilgern heute!

Autorin: Es ist März. Die Luft riecht nach Frühling. Ich sehne mich nach Wärme und Sonne, will meiner Seele Flügel verleihen.

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer. Mein Name ist Antje Rösener und ich arbeite als Theologische Studienleiterin im Evangelischen Erwachsenenbildungswerk Westfalen und Lippe. Im Frühling werde ich immer so ungeduldig und sehne mich in die Sonne, ans Meer dorthin wo jetzt schon die Mandelbäume blühen und man bei 20 Grad abends draußen sitzen kann. Weg von hier, möglichst mit dem Flieger, auf schnellstem Weg, drei Stunden, schwupps - und schon bist du in der Sonne. „Die Seele geht zu Fuߓ sagen dagegen andere.  Eine davon ist Irene Esser aus Löhne.

O-Ton Irene Esser: Es ist ziemlich genau 10 Jahre her, da habe ich um diese Zeit die erste Pilgertour geplant, damals bin ich ungefähr 350 km auf dem spanischen Jakobsweg gelaufen. Ich war damals nämlich grad 20 Jahre verheiratet und ich fand das so toll, dass mein Mann gesagt hat, wenn du das willst, ne, mal 4 Wochen weg von zuhause, um mal zu gucken, was ist eigentlich jetzt so bei dir…das fand ich gut. Ich hab mich dann innerlich auf den Weg gemacht um zu gucken, wo ist eigentlich mein persönlicher Lebensweg? Wie war das vor 20 Jahren und wie ist das heute?

Autorin: Ganz bewusst einen Weg gehen, einen Schritt vor den anderen setzen, aufmerksam sein, die Natur wahrnehmen, spüren, lauschen, riechen, schmecken, meditieren… - das fasziniert immer mehr Menschen. Für Irene Esser blieb es nicht bei diesem einmaligen Erlebnis. Im folgenden Jahr begann sie von vorn und pilgerte mit ihrem Mann drei Sommer lang den gesamten spanischen Jakobsweg. langweilig wurde das nicht:

O-Ton Irene Esser: Im ersten Jahr bin ich unterwegs gewesen mit einem inneren Weg, hab z.B. den Psalm 139 immer für mich dabei gehabt, immer wieder mal meditiert. Im nächsten Jahr habe ich viel geträumt, im Jahr drauf waren es dann die Begegnungen. Man muss mit einer offenen Einstellung losgehen und dann gucken. Manchmal ist natürlich auch das Wetter so prägend. Oder die Landschaft, die so gestaltet ist, wie dir innerlich zu Mute ist. Im ersten Jahr bin ich mal durch verbrannte Erde gegangen. Da hatte es ein großes Feuer gegeben, das hatte sich über die Getreidefelder gebrannt, das könnte für manchen abstoßend sein. Aber für mich war es auch so ein Bild von einer inneren Leere oder Verbranntheit, die es ja auch mal geben kann.

Autorin: Es ist schon erstaunlich, dass Tausende von Menschen hier in Deutschland in den letzten Jahren das Pilgern wiederentdeckt haben – wo es doch unzählige Möglichkeiten gibt, komfortabel und bequem zu reisen und sich alle Mühen des Alltags abnehmen zu lassen.

Vielleicht ist aber gerade das für viele zu eintönig geworden. Beim Pilgern erlebt man was - oft sehr Überraschendes. Beim Pilgern spürt man was – oft ganz Neues …gerade weil man der Natur, dem Weg, dem Wetter, dem eigenen Körper so ausgeliefert ist. Gerade weil nicht alles vorprogrammiert ist…!

O-Ton Irene Esser:  Ein Wochenende drei Tage lang nur Regen! Und das war so beflügelnd. Erst mal haben wir uns noch verlaufen und kamen nach anderthalb Stunden wieder da an, wo wir losgegangen waren, im Dunkeln. Dann habe ich mich drei Tage lang in dieser Regenwetterkleidung so geschützt gefühlt, so geborgen und dann denkst du natürlich an Gottes Schirm und Schutz.

Musik: CD Tango 3.0, Gotan Project, YABO053CD-6148342
Track 11, Erase una vez
…

Autorin: Pilgern auf dem Jakobsweg – das bleibt für viele ein Traum, denn nicht alle können sich wochenlang auf die Straße begeben. Irene Esser, Pädagogische Mitarbeiterin in der Evangelischen Erwachsenenbildung in Ostwestfalen, hat sich deshalb etwas einfallen lassen: Das Puschenpilgern.

O-Ton Irene Esser: Da ist mir der moderne Pilgerweg, der Sigwardsweg begegnet im alten Bistum Minden und zunächst habe ich da etwas hochnäsig die Nase gerümpft und gesagt, das kann doch kein Pilgern sein, so vor der Haustür, Puschenpilgern und hab dann gemerkt, wie intensiv auch eine Woche sein kann oder auch ein Tag sein kann. Und dann habe ich mir gedacht, ich möchte dieses Angebot entwickeln, mal für einen Tag runterzuschalten, mal für ein Wochenende.

Autorin: Das Puschenpilgern, das Pilgern hier vor der Haustür, an Ort und Stelle, ganz in der Nähe des Alltages – auch das hat inzwischen viele Anhänger gefunden. Die alten Jakobswege werden wieder entdeckt und in  den letzten Jahren sind sogar hier in Nordrhein-Westfalen mehrere neue Pilgerwege eröffnet worden. Zum Beispiel der Weg Pilgern im Pott. Der führt von der Emschermündung in Dinslaken bis zur Emscherquelle in Holzwickede. Einmal quer durch den Pott, durch Wald- und Wiesentäler, Industriedenkmäler und Gleisanlagen, Steinwüsten und Parklandschaften.

Oder der 2011 eröffnete Pilgerweg im Lipperland. 162 km durch den Teutoburger Wald, vorbei an verträumten Dörfern, herrlichen Hügeln, weiten Wiesen und 24 wunderschönen alte Kirchen. Und natürlich auch der schon erwähnte Sigwardsweg. Ein 170 km langer Rundweg im alten Bistum Minden.

Pilgern – das kann man auf eigene Faust oder auch in einer Gruppe. Angebote dazu findet man zum Beispiel bei der Evangelischen Erwachsenenbildung. Dann kümmern sich Pilgerführer wie Irene Esser um den Weg und die Unterkünfte. Sie geben der Gruppe immer wieder kleine spirituelle Impulse. Man startet vielleicht mit einem Lied oder mit einem Reisesegen in einer Kirche und erhält im Weiteren Anregungen zum Innehalten. Besonders eindrücklich ist das Schweigen in einer Gruppe.
 
O-Ton Irene Esser: Neulich habe ich den Satz gehört: Wenn ich alleine gehe, dann merke ich gar nicht, dass ich schweige, aber wenn ich mit einer Gruppe gehe, dann wird das ganz besonders. Ich bin mit älteren Menschen gegangen, nur mit Frauen, aber auch mit Schülern. 13 Und ich bin erstaunt, wie sehr gerade die Schüler das hinterher als beeindruckend geschildert haben. Erst haben sie gelacht und fanden das auch etwas komisch und dann hat auch mal son Junge  Piep gesagt, aber dann wurde es immer ruhiger.…und in der Feedback Runde am Ende kam schon die Nachricht: Also das Schweigen, das war toll.

Musik:

Autorin: Manche belächeln das Pilgern. Sie bezweifeln, dass das Pilgern eine weitere Möglichkeit sein kann, den eigenen Glauben, die eigene Spiritualität mit Leib und Seele zu leben. Viele fragen sich, was das soll, zu laufen und zu schweigen oder in der Stille einen Vers aus der Bibel, eine Zeile eines Liedes zu meditieren. Wandervögel hat es schon immer gegeben, sagen sie dann. Viel mehr kann das Pilgern doch auch nicht sein.

O-Ton Irene Esser: Wenn man sich fragt, was unterscheidet eigentlich Wandern und Pilgern, dann würde ich sagen, das ist vor allen Dingen diese innere Einstellung. Denn wenn ich  meine Seele öffne und mein Herz auch öffne für Fragen von Sinn und von dem, was ist eigentlich wichtig oder unwichtig, dann begegnet mir auch im Außen etwas, dann höre ich den Gesang der Vögel ganz anders, oder nehme den Baum  wahr oder nehme Kraft aus einer Begegnung,  das ist es.

Autorin: Irene Esser ist evangelisch und gläubig, doch die Menschen, die mit ihr pilgern sind längst nicht alle Christen. Oftmals stehen sie an Wendepunkten in ihrem Leben oder sie suchen kleine Auszeiten in ihrem schnellen und anstrengenden Alltag. Das Pilgern steht auch für einen etwas anderen Lebensstil. Man kann dabei die Schönheit der Natur, der Kirchenräume, der Langsamkeit, der Einfachheit, der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft neu entdecken.

O-Ton Irene Esser: Ein Freund hat jetzt gesagt, er sei ein paar Tage unterwegs gewesen auf dem Pilgerweg, ohne Unterkünfte zu buchen. Hier in Deutschland. Die liegen dann ja nicht so auf dem Weg, die Unterkünfte. Da sagt er: Ja, wir waren ein paar Tage unterwegs und wir sind sechs Engeln begegnet.

Autorin: Trotzdem hat dieses moderne Pilgern wenig gemein mit den im Mittelalter üblichen Wallfahrten.

O-Ton Irene Esser: Wenn ich im Mittelalter unterwegs war, dann war das Arbeit für meine Seele um bei Gott Gnade zu finden. Das war berechtigt, dass Luther sich dann von diesem Pilgern abgesetzt hat. Und die Menschen heute, die wissen, dass sie eine unmittelbare Beziehung zu Gott haben können und dass Gott gnädig ist auch an dem Ort, wo ich bin. Aber dieses mich innerlich noch mal auf den Weg machen, innerlich zu suchen und anzukommen, das ist das Neue und das finde ich wunderbar!

Autorin: Dass Menschen an bestimmte Orte pilgern, weil sie hoffen, dort Gottes Nähe zu spüren, ihr Herz durch Beten zu erleichtern oder auch ein Leiden zu lindern – das Phänomen gibt es in fast allen Religionen. Jerusalem war zum Beispiel schon in den Jahrhunderten vor Jesu Geburt ein wichtiger Wallfahrtsort für die Juden. Für gläubige Muslime ist bis heute die Haddsch, die Wallfahrt nach Mekka, in die Geburtsstadt ihres Propheten Mohammed, einer der Höhepunkte in ihrem Leben. Wenn evangelische Christen das Pilgern heute für sich wiederentdecken, geht es nur selten darum, einen bestimmten Ort aufzusuchen, um dort etwas Besonderes zu erleben. Der Weg ist das Ziel. Wichtig sind die Erfahrungen, die Gedanken und Gefühle, die Wünsche und Gebete, die Menschen unterwegs haben.

O-Ton Irene Esser: Es gab auch mal die Rückmeldung, dass eine Frau sagte: Ich fand nicht, dass das so das richtige Pilgern war. Da hatten wir nämlich Zeit bekommen und sind dann unterwegs auch mal ins Cafe gegangen und haben Kuchen gegessen. Und es war plötzlich so laut und lebendig. Sie hatte erwartet, das richtige Pilgern sei eigentlich nur das im Schweigen. So, das ganz streng rituell Angeleitete. Ich weiß, dass das Pilgern unendliche Formen haben kann. Und auch wenn du dann kaputt bist und setzt dich hinterher in die Eisdiele und genießt dann dieses Eis, das ist für mich auch ein Teil von Pilgern. 

Autorin: Pilgernde kommen verändert zurück – diese Erfahrung machen die vielen Freunde und Freundinnen des Pilgerns tatsächlich. Der Blick für das Wesentliche wird geschärft. Um dem eigenen Leben Tiefe und Sinn zu geben, um glücklich zu sein – braucht es keinen Luxus, keine teuren Reisen. Weniger ist oftmals mehr – das kann man beim Pilgern erleben und sich dann fragen: Was heisst das für mein Leben und unsere Gesellschaft?

Es ist März, die Pilgersaison hat gerade erst begonnen. Einfacher leben, bewusst neue Wege gehen, Beten mit den Füßen – vielleicht sind Sie ja dieses Jahr auch dabei?
Es verabschiedet sich von Ihnen Pfarrerin Antje Rösener aus Hattingen.

Musik: CD Tango 3.0, Gotan Project, YABO053CD-6148342
Track  1; Tango Square


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