Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

19.02.12; Pfarrer Michael Nitzke

Ach, wär doch alles wie im Märchen

Eine Schlange, ein neugieriger Mann, eine Frau, die einen Apfel will, der Baum des Lebens, ein allwissender Herrscher, das sind die Zutaten einer Geschichte

in zwei Varianten, über die ich heute mit Ihnen nachdenken will.

Liebe Hörerin, lieber Hörer, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen! Mein Name ist Michael Nitzke und ich bin Pfarrer in der Evangelischen Philippus-Kirchengemeinde in Dortmund.

Sicher kennen Sie eine Geschichte, in der alle diese Elemente vorkommen. Es ist die biblische Geschichte von Adam und Eva. Sie erzählt von der Entstehung dieser Welt und des Menschen durch einen allwissenden Gott. Als sie entstand, dachte man, dass es so gewesen sein könnte. Heute wird diese Geschichte schnell als Märchen, als Kinderkram abgetan. Viele meinen, dass Märchen von Kindern gerne hört werden, aber als Erwachsener lässt man sie hinter sich. Doch in solchen Geschichten steckt mehr Weisheit und Wahrheit als man denkt.

Sie hören gleich die zweite Geschichte mit den Zutaten Schlange, Mann, Frau, Baum und Herrscher. Es ist ein Märchen, das die Gebrüder Grimm aufgeschrieben haben.

Sprecherin: (Gebr. Grimm, KHM 17, gekürzt und bearbeitet):
Es lebte ein König, dessen Weisheit berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt. Jeden Mittag, musste ein vertrauter Diener eine Schüssel bringen. Eines Tages überkam den Diener die Neugierde. Er hob den Deckel auf und sah, dass eine weiße Schlange darin lag. Er schnitt ein Stückchen davon ab. Kaum hatte er es gegessen, hörte er die Sperlinge miteinander sprechen. Der Genuss der Schlange ermöglichte ihm, die Sprache der Tiere zu verstehen.

Nun trug es sich zu, dass der Königin ihr schönster Ring fortkam und auf den Diener, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König drohte ihm, wenn er bis morgen den Täter nicht zu nennen wüsste, so sollte er gerichtet werden. In seiner Angst ging er auf den Hof. Da hörte er eine Ente sagen: “Mir liegt etwas schwer im Magen, ich habe einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, mit hinuntergeschluckt.” Da packte sie der Diener, und sprach zum Koch: “Schlachte sie!” - Und alsbald fand sich der Ring in ihrem Magen. Der Diener konnte nun seine Unschuld beweisen, und der König wollte ihm einen Wunsch erfüllen.

Der Diener bat um ein Pferd und Reisegeld, machte sich auf den Weg und kam an einem Teich vorbei, wo er drei Fische bemerkte, die sich im Schilf verfangen hatten. Er hörte sie klagen, dass sie so elend umkommen müssten. Da setzte er die drei wieder ins Wasser. Sie riefen ihm zu: “Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten!”
Er ritt weiter, und vernahm, wie ein Ameisenkönig klagte: “Wenn uns nur die Menschen mit ihren Pferden nicht immer niedertreten würden!” Er ritt auf einem Seitenweg und schonte sie so, und der Ameisenkönig rief ihm zu: “Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten!”

Dann sah er Rabeneltern, die ihre Jungen aus dem Nest warfen. “Ihr seid groß genug und könnt euch selbst ernähren.” Da stieg der Jüngling ab, und gab den jungen Raben Futter. Die riefen: “Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten!”

In eine großen Stadt suchte der König für seine Tochter einen Gemahl. Wer sich um sie bewerben wolle, der müsse eine schwere Aufgabe vollbringen. Als der Jüngling die Königstochter sah, meldete er sich. Der König hieß ihn, einen goldenen Ring aus dem Meeresgrund hervorzuholen. Da schwammen die drei Fische zu ihm, welchen er das Leben gerettet hatte und holten ihm den Goldring.

Die Königstochter aber stellte ihm eine zweite Aufgabe. Sie streute zehn Säcke voll Hirse ins Gras und sprach: “Die muss Er morgen früh aufgelesen haben.” Der Jüngling schlief traurig ein. Als ihn die ersten Sonnenstrahlen weckten, sah er die zehn Säcke alle wohlgefüllt nebeneinander stehen. Der Ameisenkönig war mit tausenden Ameisen in der Nacht angekommen, und die dankbaren Tiere hatten die Hirse in die Säcke gesammelt.

Die Königstochter sprach: “Er soll nicht eher mein Gemahl werden, bis er mir einen Apfel vom Baume des Lebens gebracht hat.” Der Jüngling hatte keine Hoffnung, ihn zu finden. Da hörte er ein Geräusch und ein goldener Apfel fiel in seine Hand. Drei flogen Raben zu ihm herab, und sagten: “Wir sind die drei jungen Raben, die du vom Hungertod errettet hast.”

Voll Freude brachte der Jüngling der schönen Königstochter den goldenen Apfel. Zusammen aßen sie den Apfel des Lebens. Da ward ihr Herz mit Liebe zu ihm erfüllt, und sie erreichten in ungestörtem Glück ein hohes Alter

(Musik CD: Falk+Sons, Celebrate Bach LC 00699
              Track 2 - Badinerie – 3:26))) (kann zur Not entfallen)

Autor: „Die weiße Schlange“ überschrieben die Gebrüder Grimm das Märchen, in dem einige Elemente aus der Schöpfungsgeschichte stecken. Das Märchen verläuft allerdings ganz anders, als die Geschichte von Adam und Eva aus der Bibel. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten.

Da sind die Schlange und der Baum des Lebens. Im Märchen geht von der weißen Schlange, keine Gefahr mehr aus. Dennoch bleibt sie geheimnisvoll und verleiht dem Menschen eine Eigenschaft, die er bisher nicht kannte: Er kann die Sprache der Tiere verstehen. In der Bibel wird die Schlange dagegen selbst aktiv:

Sprecherin (1. Mose 3,1 Einheitsübersetzung): Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?

Autor: Eva erzählt der Schlange, dass dies nur für einen Baum gilt. Und dann - isst sie trotzdem vom verbotenen Baum der Erkenntnis und Adam beißt auch in die Frucht hinein. Da wird ihnen bewusst: Wir sind ja nackt. Sie schämen sich. Das unterscheidet sie von den Tieren im Paradies, denn die können nicht sprechen und sich daher auch nicht schämen. Die Schlange aus der Bibel bringt den Menschen dazu, sich von den Tieren abzusetzen. Die Schlange aus dem Märchen bewirkt das Gegenteil: Sie bringt den Menschen in eine besondere Nähe zu den Tieren, sie können einander verstehen.

Auch der Baum des Lebens spielt im Märchen wie in der Schöpfungsgeschichte eine Rolle. Im Märchen bewirkt die Frucht des Lebensbaumes, dass Liebe zwischen dem Diener und der Königstochter entsteht und dass sie in ungestörtem Glück ein hohes Alter erreichen.

In der Bibel wird der Baum des Lebens für Adam und Eva unerreichbar bleiben. Denn weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, was sie nicht sollten, hat Gott sie aus dem Paradies verwiesen.

Sprecherin (1.Mose 3,22): Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!

Autor: Als die Menschen nicht mehr im Paradies waren, begannen die Probleme: sie mussten im Schweiße ihres Angesichtes ihr Brot verdienen und unter Schmerzen Kinder bekommen.

Nun könnte man meinen: „Im Märchen sind alle glücklich und zufrieden und in der Bibel geht es traurig aus, soll ich dann nicht doch lieber an Märchen glauben?“
Ich denke das ist nicht die Frage, sondern es kommt darauf an, dass ich verstehe, was beide Erzählungen jede für sich aussagen wollen, und was ich daraus für mich machen kann.

Die Bibel erzählt, was wir heute erleben. Der Mensch lebt nicht im Einklang mit der Schöpfung. Er kämpft um sein Überleben, muss Zeit und Energie aufbringen, sich zu ernähren, Kinder zu bekommen und aufzuziehen. Er unterscheidet sich von den Tieren, und kann sie auch nicht verstehen.

Das Märchen schildert einen Traum. Der Mensch versteht die Tiere, er hilft ihnen, und sie helfen ihm. Das führt zu einer Harmonie, die auch die Menschen harmonisch leben lässt. Der Baum des Lebens, der seit Adam und Eva unerreichbar war, ist mit Hilfe der Tiere wieder in greifbarer Nähe. Ein schöner Traum? Menschen und Tiere verstehen sich und Tiere verhelfen dem Menschen zu ungestörtem Glück. Ach, könnte doch alles so sein wie im Märchen!

Musik CD: Falk+Sons, Celebrate Bach LC 00699
              Track 4 - Menuett – 3:22

Autor: Ach, könnte doch alles so sein wie im Märchen!

Das Grimmsche Märchen von der weißen Schlange und die biblische Geschichte von der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies haben noch etwas gemeinsam: In beiden Geschichten hat sich der Hauptakteur Wissen angeeignet, das ihm nicht zustand. Im Märchen nahm der Diener ungefragt, die Dinge seiner Herrschaft. In der Bibel aß der Mensch etwas von dem einzigen verbotenen Baum.

Das heißt, der Mensch steht vor Schranken, die er unter normalen Umständen nicht überschreiten kann. Dennoch trägt er die Sehnsucht in sich, nach einem Leben ohne Probleme, nach Liebe und Harmonie und nach langem Leben.

Im Märchen verhelfen die dankbaren Tiere dem Menschen dazu, etwas von diesen Sehnsüchten zu verwirklichen. Es sind die Fische, die im Wasser schwimmen, die Ameisen, die über die Erde kriechen und die Raben, die durch die Luft fliegen. Das erinnert mich daran, was Gott zu den Menschen sagte, als er mit ihrer Erschaffung seine Schöpfung vollendet hatte:

Sprecherin (1. Mose 1,28): Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

Autor:  Hier sind die Tiere in ihrer Gesamtheit angesprochen: Wassertiere, Landtiere und Tiere, die durch die Luft fliegen. Der Gedanke „machet sie euch untertan“ wird meist missverstanden. Ein guter König beutet seine Untertanen nicht aus, er schafft ihnen gute Lebensmöglichkeiten. Doch das haben die Menschen immer mehr verlernt. Die dankbaren Tiere im Märchen sind sicher nicht zufällig auch Wassertiere, Landtiere und Tiere, die durch die Luft fliegen. Die Tiere sind auch hier in der Gesamtheit angesprochen. Sie helfen dem Diener nicht nur, sondern sie tun etwas für ihn, weil dieser Mensch zuvor etwas für diese Tiere getan hat.

Das Märchen von der weißen Schlange ist wie der Versuch einer Korrektur der Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies. Die Wiederherstellung einer guten Beziehung zwischen dem Menschen und den ihm anvertrauten Geschöpfen. Das zeigt umgekehrt aber auch, dass die Bibel gar nicht so märchenhaft ist, wie manche meinen. Die Wahrheit der Geschichte von Adam und Eva ist: Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ist tief gestört. Die Wahrheit des Märchens ist: Der Mensch erkennt, dass er diese Störung überwinden will. Doch der Diener im Märchen hat sein ungestörtes Glück nur erreicht, indem er dem allwissenden König sein Geheimnis raubte. Adam und Eva hatten mit ihrem Raub kein Glück. Gott hatte entdeckt, dass sie vom Baum der Erkenntnis aßen, was er ja verboten hatte.

Die gestörte Harmonie zwischen dem Menschen und dem Rest der Schöpfung ist eine Urerfahrung, wie die biblische Geschichte zeigt. Im Märchen kann die Harmonie nur durch einen Raub wiederhergestellt werden, damit komme ich aber in meinem Leben nicht weiter. Doch den Traum, mit der Schöpfung im Einklang zu leben, möchte ich nicht aufgeben. Ich kann nur darauf vertrauen, dass Gott selbst mir eine Hand reicht und mir hilft, meinem Auftrag gerecht zu werden. Meinem Auftrag, für die Schöpfung zu sorgen, wie ein guter König für die, die ihm anvertraut wurden.

Der Prophet Jesaja schildert in der Bibel seinen Traum von der Harmonie zwischen Menschen und Tieren:

Sprecherin (Jes 11,8-9 Gute Nachricht): Der Säugling spielt beim Schlupfloch der Schlange, das Kleinkind steckt die Hand in die Höhle der Otter. Niemand wird Böses tun und Unheil stiften auf dem Zion, Gottes heiligem Berg.

Autor: Von solcher Harmonie sind wir noch weit entfernt. Gott hilft mir aber, diesen Traum wach zu halten. Ich brauche Gott sein Geheimnis nicht zu entreißen wie der Diener im Märchen dem König. Gott gibt mir freiwillig und schon jetzt die Fähigkeit, auf seine Geschöpfe zu hören. Sie sprechen nicht die Sprache der Menschen, aber ich kann dennoch erkennen, wo sie Hilfe brauchen.

Märchen sind eben nicht nur Geschichten, um Kinder zum Schlafen zu bringen, sie können auch Geschichten sein, um Menschen wach zu rütteln. Das Märchen von der weißen Schlange mit seinem Traum von einem Miteinander von Menschen und Tieren lässt mich sowohl die alten Geschichten der Bibel, als auch die Probleme der heutigen Welt in einem anderen Licht sehen.

Es grüßt Sie: Pfarrer Michael Nitzke von der Evangelischen Kirche.

Musik CD: Falk+Sons, Celebrate Bach LC 00699
              Track 08 – Invention – 3:36


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