Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

28.06.10, Pfarrer Michael Nitzke

Ich war Hitlers Schutzengel

„Fahr nie schneller, als Dein Schutzengel fliegen kann!“ Viele Menschen lesen diesen Spruch jeden Tag. Er klebt auf Autos oder steht auf Schlüsselanhängern.

Wer ihn liest, findet darin doppelten Trost. Er glaubt, dass er einen persönlichen Schutzengel hat! Er weiß aber auch, dass er ihn nicht überfordern darf. Vielleicht erfüllt der Spruch schon dadurch seinen Zweck, bringt die Menschen zum vorsichtigen Fahren und rettet so viele Menschenleben.

„Laut Erhebung des Instituts für Demoskopie glauben zwei Drittel der deutschen Bevölkerung an ihren Schutzengel, damit an ständige Begleitung und Leitung, an persönlichen Schutz durch eine höhere Macht.“  Der Schriftsteller Dieter Kühn denkt diese Erkenntnis bis ins Letzte durch und schreibt ein Buch mit dem provokanten Titel: „Ich war Hitlers Schutzengel.“

Kann ein Mensch, der 60 Millionen Menschen den Tod gebracht hat, einen Schutzengel haben? Die Propaganda hat damals so etwas Ähnliches behauptet. Die Vorsehung habe Hitler vier Mal vor Attentaten bewahrt, die nur durch Zufälle nicht erfolgreich waren. Dieter Kühn denkt sich aus, wie Hitlers Schutzengel wohl reagiert hatte. Zwei Mal trieb der Engel als innere Stimme ihn zur Eile an, sodass Hitler den Schauplatz vor dem Zünden der Bombe verlassen konnte. Zwei Mal legte jemand die Bombe so hin, dass sie ihn nicht treffen konnte. Das Ergebnis ist bekannt. Europa lag in Schutt und Asche, unsägliches Leid in aller Welt.

Dieter Kühn lässt den Engel über seine Verantwortung nachdenken. „Habe ich [als Schutzengel] versagt, oder habe ich mich bewährt?“  Jahrzehnte lang versteckt er sich und schützt niemanden mehr. Er fragt sich, ob ihm dieser Konflikt nicht hätte erspart werden können.

Kühn beschreibt mit diesen ausgedachten Selbstgesprächen eines Engels Konflikte des Glaubens. Hat sich Gott nach der Schöpfung etwa von der Welt zurückgezogen? Und warum hat nicht einer der vielen, die Hitler beseitigen wollten, ihn Auge in Auge getötet? Doch solche Menschen fragten sich, ob das verantwortbar sei: „Selbst wenn das Attentat einem Diktator gilt, so bleibt es doch Mord“ , und was ist mit unbeteiligten Opfern?

Kühn nennt Namen von Geistlichen, die gegen Hitler im Widerstand arbeiteten. Er schildert aber auch Menschen, die Gott für die Bewahrung des Diktators dankten. „Ein evangelischer Landesbischof“ , dessen Name der Engel sich nicht merken konnte, setzte dazu sogar einen Sondergottesdienst an.

In zwei Rahmengeschichten malt der Autor sich aus, was passiert wäre, wenn der Schutzengel nicht aufgepasst hätte. Mit Hitlers vorzeitigem Tod hätte sich zwar einiges geändert. Es standen genügend mögliche Nachfolger bereit. Aber Krieg und Tyrannei wären durch sie allenfalls etwas abgemildert worden.

Kühns Buch will gar nicht politisch korrekt sein, es will herausfordern. Er zweifelt nicht daran, dass ein Schutzengel schnell genug fliegen kann. Aber er gibt denen ein gehöriges Stück Verantwortung an der Schreckensherrschaft, die zu Gott für die Bewahrung des Tyrannen gebetet  haben.

Kann man nach diesem Gedankenexperiment überhaupt noch damit rechnen, dass Gott einen Engel schickt, der uns begleitet?  Ich glaube schon, aber sicherlich brauche ich dafür einen neuen Schlüsselanhänger, vielleicht mit diesem Text: „Lebe nie so, dass Dein Schutzengel in moralische Konflikte kommt.“

Buchinformation: Dieter Kühn, Ich war Hitlers Schutzengel, Fiktionen, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010,

Audiobeitrag Ich war Hitlers Schutzengel


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