Der evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR

09.05.10; Pfarrer Michael Nitzke

Sophie Scholl, Aus dem Wort folgt die Tat

Autor: Unzählige Male bin ich in Dortmund durch die Geschwister-Scholl-Straße gegangen: als Kind an der Hand der Mutter, als Student schnellen Schrittes zum Bahnhof.

Und heute fahre ich oft  mit dem Auto durch, um einen Parkplatz zu suchen.

Guten Morgen liebe Hörerin, lieber Hörer. Mein Name ist Michael Nitzke, ich bin Pfarrer der Evangelischen Philippus-Kirchengemeinde in Dortmund.

„Die Geschwister Scholl haben gegen Hitler gekämpft und Hitler war böse“, so die Antwort der Mutter zum fragenden Kind an der Hand. ‚Hans und Sophie Scholl, das waren mutige Studenten im Widerstand, die das Verteilen von Flugblättern mit dem Leben bezahlt haben‘, weiß ich fünfzehn Jahre später. Was bewegt junge Menschen, ihr Leben in Gefahr zu bringen? Selbst für eine gute Sache ist das nicht selbstverständlich. Die Historikerin Barbara Beuys hat vor kurzem eine Biografie Sophie Scholls veröffentlicht. Sie beschreibt, wie der christliche Glaube und die Sehnsucht nach Freiheit diese junge Frau prägt. Schwäbischen Pietismus und widerborstigen Familiengeist lernte sie schon im Elternhaus kennen:

O-Ton Barbara Beuys: Die Lina Scholl, die Mutter, war eine pietistische Frau, aber gar nicht so wie das Vorurteil uns scheinen lässt, die war nicht bigott und nicht eng, sondern sie hatte einen fröhlichen, toleranten Glauben, was man auch daran sieht, dass sie einen Mann geheiratet hat, der Nichtchrist war, Agnostiker, der Robert Scholl hat das von Anfang an gesagt, aber er war angetrieben vom Humanismus. Und so sind diese beiden Strömungen, ein gläubiger und fest auf Gott vertrauender Protestantismus, und dann dieses Freiheitsideal in die Erziehung von Sophie Scholl eingegangen, und das hat sie auch nie mehr geleugnet.

Autor: Barbara Beuys hat sich bei ihrer Biographie über Sophie Scholl auf bislang unberührte Archivmaterialien gestützt, die Inge Aicher-Scholl, die älteste Schwester von Sophie Scholl, dem Institut für Zeitgeschichte in München hinterlassen hat. Briefe und Tagebücher schildern wie Sophie Scholl ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus erlebte. Am Anfang konnte sie noch nicht ahnen, dass diese Ideologie einmal Millionen Mensch den Tod brachte. Wie viele junge Menschen in ihrer Zeit, ließ sie sich von den neuen Möglichkeiten begeistern, die die neuen Machthaber boten.

O-Ton Barbara Beuys: Die HJ war für die Jungen zuständig, der Bund Deutscher Mädels für die Mädchen. Und so etwas hat es bis dahin noch nicht gegeben, dass Mädchen außerhalb der Familie, legal wandern konnten, zelten konnten; die Jugendbewegung, die Wandervögel bis 1933, das waren alles Männerbünde,  und das war die besondere Attraktion eben dieses BDM, dass auch Mädchen das machen konnten.

Autor: Hitler verstand es, die Bedürfnisse der Jugend aufzunehmen. Und zunächst merkten viele nicht, dass sein System des Führerprinzips sich auf alle Lebensbereiche ausdehnte, so auch im Leben von Kindern und Jugendlichen. Der Grundsatz „Jugend führt Jugend“ erschien unverdächtig. Und so wurde auch Sophie Scholl Jugendführerin im BDM.

O-Ton Barbara Beuys:  Das heißt, die vierzehn-, fünfzehnjährige Sophie Scholl hatte so zwölf, dreizehn Mädchen unter sich, und mit denen ist sie gewandert, hat Touren ausgearbeitet. Also es war ein Stück Verantwortung, aber etwas, was sie gern gemacht hat, und sozusagen ein Stück Selbstvergewisserung.

Autor:  Sophie Scholl hat diese Strukturen genutzt, um mit Gleichaltrigen zu arbeiten. Sie war dabei aber nicht immer nur auf der Linie der Nationalsozialisten, sondern las den Mädchen ihrer Gruppe zum Beispiel auch eine Erzählung von Rainer Maria Rilke vor, die den Nazis nicht recht sein konnte. Rilke beschreibt darin einen jungen Soldaten aus dem 17. Jahrhundert, der seinem Auftrag treu ist und deshalb sein Leben verliert. Aber eigentlich hatte er von einem Leben ohne Waffen und Uniformen geträumt. Wie hat Sophie Scholl den Weg in den Widerstand gefunden? Barbara Beuys gewinnt auch hier neue Erkenntnisse:

O-Ton Barbara Beuys:  Ja, der Mythos ist ja, dass schon 1935 im Herbst mit dem Reichsparteitag erst der Hans Scholl sich abgewandt hat von der NS-Ideologie und anschließend auch die Geschwister. Das ist nach den vielen Dokumenten, die ich gesehen habe so nicht zu halten. Es muss eine längere Entwicklung gegeben haben ab 1937/38, und wirklich fassbar wird es erst in den Briefen an ihren Freund Fritz Hartnagel, als der Krieg 1939 ausbricht und sie da klipp und klar sagt: „das ist ein verbrecherischer Krieg und die Politik die da hinführt, ist ein Verbrechen, und ich kann das nicht mitmachen“.

Musik: CD Barbara Dennerlein, Spiritual Movement, LC 08526
              Track 8  - Spiritual Movement

Autor:  Sophie Scholl führt einen intensiven Briefwechsel mit ihrem Freund Fritz Hartnagel. Sie hatte ihn 1937 bei einem lustigen Nachmittag mit Musik und Tanz kennen gelernt. So nannte das die Jugend damals, wir würden das heute vielleicht als Zimmerparty bezeichnen. Sophies neuer Freund Fritz muss bald als Soldat an die Front. Später wurde er mit einer der letzten Maschinen aus Stalingrad geflogen. Von ihm erfährt sie, wie schrecklich der Krieg ist. Ihm schreibt sie, was sie bewegt:

Sprecherin [Briefwechsel, S. 102]:
„Lieber Fritz, danke schön für Deinen Brief, hoffentlich muss ich auf den nächsten nicht wieder so lange warten. Es ist etwas vom Gemeinsten, wenn man dauernd über einen Menschen im Unklaren ist und sei es über seinen Aufenthalt. … Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht es ist fürs Vaterland. … Hoffentlich kannst Du mir bald schreiben. Alles Gute   Sofie.“

Autor: Sophie kann sich mit dem sinnlosen Sterben nicht abfinden. Auch ihre Brüder Hans und Werner sind im Krieg. Ihre Mutter lebt ihr vor:  nur der Glaube an Gott kann helfen. Lina Scholl schreibt ihren Söhnen: „Ich könnte gar nicht leben in diesen schrecklichen Zeiten, wenn ich nicht glaubte, Gott wird alles richten.“
Sophie und ihre Schwester Inge lernen einen Klassenkameraden ihres Bruders Werner kennen. Er heißt  Otl Aicher und ist bewusster Katholik. Es gelang ihm, nie in die Hitlerjugend einzutreten. Mit ihm suchen sie gemeinsam in der Bibel nach Antworten, und er macht sie auch mit anderen Glaubenszeugnissen bekannt.

O-Ton Barbara Beuys:  Für Sophie Scholl, die so verstandesmäßig reagierte, für die das Denken wichtig war, war diese Begegnung mit dem Katholizismus sehr eindrücklich, und es ist dann sozusagen dazu gekommen, dass sie ab 1941 jeden Abend im Augustinus las, und dass sie sich sehr viel mehr mit Gott beschäftigte und ihrem persönlichen Verhältnis zu Gott.

Autor: Augustinus gilt als einer der Kirchenväter. Er lebte im 4. und 5. Jahrhundert. Bevor er Bischof wurde, führte er einen lockeren Lebenswandel. Von ihm stammt das Gebet, in dem nun Sophie Scholl immer wieder Halt findet:

Sprecherin [Biographie, S. 280]: „Du hast uns geschaffen hin zu Dir, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir“

Autor: Sophies Glaube ist immer noch ein fragender Glaube. Von ihrer Evangelischen Kirche hört sie kaum hilfreiche Antworten. Die offiziellen Predigten, die sie in ihrer Umgebung hören konnte, waren angepasst an die Anforderungen des Regimes. Sophie Scholl wird von dem mystischen Katholizismus angezogen. Sie hat nicht die Gelegenheit sich mit dem intellektuellen Protestantismus auseinanderzusetzten, der auch Möglichkeiten aufzeigt, sich gegen Hitler zu wehren. Barbara Beuys hat beim Studium der Briefe entdeckt, dass diese Wege dennoch in die gleiche Richtung führen.

O-Ton Barbara Beuys:  Ich zeige ja dann, welche erstaunlichen Parallelen es gibt zwischen der Schrift von Dietrich Bonhoeffer am Jahresende 1942, einer Art Rechenschaftsbericht für seine Freunde im Widerstandskampf, wo er schreib: „Wir haben alle Taten getan, die wir eigentlich nicht tun wollen, wir sind misstrauisch, wir sprechen nicht mehr die Wahrheit aus.“ Und zur gleichen Zeit schreibt Sophie Scholl etwas ganz ähnliches an ihren Freund Fritz Hartnagel, wo sie auch sagt: „Wir laden Schuld auf uns, wir dürfen nicht die Wahrheit sagen“, und dann fast wortgleich, wie Bonhoeffer sagt: „aber  ich  lasse mir die Kraft nicht nehmen, um auf etwas anderes hinzuarbeiten.“

Musik: CD Barbara Dennerlein, Spiritual Movement, LC 08526
              Track 3  - Pendel der Zeit

Autor: Sophie Scholl will etwas tun.  Aus der Bibel begeistert sie ein Wort aus dem Jakobusbrief:

Sprecherin [Jakobus 1,22]: „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst.“

Autor: Sie erlebt, wie das Regime auf die die kleinste Kleinigkeit mit härtesten Strafen reagiert. Ihr Vater sagte einmal zu seiner Sekretärin, er halte Hitler für eine Geißel Gottes. Dafür muss er mehrere Monate ins Gefängnis. Sophie Scholl schreibt an ihren Freund, dass das noch nicht alles war.

Sprecherin [Briefwechsel, S. 433]:  „Ulm, den 19. November 1942 - Mein lieber Fritz! Heute erhielt mein Vater die Nachricht, dass er seinen Beruf nimmer ausüben kann, da er politisch unzuverlässig sei. … Das ist natürlich wieder ein Schlag. … Nun heißt sich’s eben einschränken, und ich tu es ja gerne. … Nun lass Dich herzlich grüßen von uns allen, besonders von Deiner Sophie. Kannst Du mir nicht einmal ein Pack Briefumschläge beschaffen?“

Autor: Unzählige Briefumschläge braucht sie, um Flugblätter zu verschicken. Mit ihrem Bruder Hans und einigen Freunden sucht sie  Adressen aus Telefonbüchern. Sie verschicken an unbekannte Menschen Texte, um sie aufzurütteln.

Sprecher (Weiße Rose, S. 92f]: „Aufruf an alle Deutsche! Der Krieg geht seinem sicheren Ende entgegen. … Was aber tut das deutsche Volk? Es sieht nicht und es hört nicht. … Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, dass den Juden widerfahren ist? … Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer GewaltStaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.  - Unterstützt die Widerstandsbewegung, verbreitet die Flugblätter!“

Autor: Freiheit des Bekenntnisses! Das Flugblatt beweist, der Widerstand von Sophie Scholl ist tief im Glauben verwurzelt. Der stärkt sie bei ihren weitern Schritten. Sie weiß, dass man mit dem Tod rechnen musste, wenn man sich offen gegen Hitler wendet. Diese Gefahr vor Augen hindert sie nicht, weiter zu machen, um mit friedlichen Mitteln, das Volk durch ein mutiges Wort aufzurütteln. Doch als sie mit Hans die letzten Flugblätter in der Universität verteilt, gibt sie, warum auch immer, einem Stapel einen Stoß. Die Blätter fliegen zwei Stockwerke tiefer, sie werden entdeckt, und innerhalb weniger Tage folgen Verhör, Schauprozess und Hinrichtung. Ihre Biographin Barbara Beuys versucht ihre Haltung in dieser kurzen Zeit nachzuzeichnen.

O-Ton Barbara Beuys: Da heißt es im Protokoll: „Sie war sehr gefasst“. Wir können davon ausgehen, dass sie von Ihrer Tat überzeugt war, und dass sie überzeugt war, jetzt zu Gott zu gehen, also das hat sie auch in den Briefen zuvor und in anderem Zusammenhang immer wieder gesagt. Davon war sie fest überzeugt. Und sie und ihr Bruder haben dann auch das protestantische Abendmahl genommen und sind als überzeugte Christen, denen allerdings jetzt die Grenzen  zwischen Katholizismus und Protestantismus…  das waren für sie keine Mauern. Sie sind als überzeugte Christen in den Tod gegangen. Und ich glaube, das hat sie dann auch getragen in ihren letzen Stunden.
 

Autor: Am 22. Februar 1943 wird Sophie Scholl in München hingerichtet. Ihr junges Gesicht  ist zum Symbol des Widerstandes geworden. Nicht nur Straßen, sondern auch Schulen wurden nach ihr benannt, Mahnmale wurden für Sie errichtet. Doch gerade dadurch besteht die Gefahr, dass sie  ein unerreichbares Denkmal bleibt. Genau hier setzt Barbara Beuys mit ihrer Biographie an. Sie schildert einen Mensch mit Stärken und Schwächen. Sophie Scholl wird so aus dem Museum geholt und kann nicht nur für junge Menschen zu einem echten Vorbild werden. Ein Vorbild, das mir nicht meine eigenen Fehler aufzeigt, sondern ein Vorbild, das Mut macht, mit dem ich mich identifizieren kann, um meinen Glauben mit Gottes Hilfe in meinem Leben umzusetzen. Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein.

Es grüßt Sie: Pfarrer Michael Nitzke von der Evangelischen Kirche.

Musik: CD Barbara Dennerlein, Spiritual Movement, LC 08526
              Track 10  - Waltzing Pipes


Literatur:  Barbara Beuys; Sophie Scholl – Biographie; München 2010
Thomas Hartnagel (Hg.); Sophie Scholl, Fritz Hartnagel - Damit wir uns nicht ver-lieren, Briefwechsel 1937-1943; Frankfurt am Main 2005
Inge Scholl; Die Weiße Rose; Frankfurt am Main 1955; 12. Auflage Mai 2006.

Audiobeitrag Sophie Scholl, Aus dem Wort folgt die Tat


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